Wie der Buchtitel schon vermuten lässt: ein Buch für Kunstinteressierte und -begeisterte, für Kunstphilosophen und -theoretiker, für Liebhaber von Rätseln und Kriminalfällen. Gleichzeitig auch ein Buch, das uns differenziert und gekonnt Personen vorstellt und uns ihre Gedankenwelt und Beweggründe nahebringt. Zusammengehalten wird die kaleidoskopartige, in der Zeit vor und zurückspringende Struktur des Romans durch den Fokus auf einen der bedeutendsten lebenden Bildhauer – Richard Serra (*1939) – und dessen Werk Equal Parallel / Guernica-Bengasi. Juan Tallón fiktionalisiert ein Stück spannende Kunstgeschichte und bringt den Leser ins Philosophieren. Lesenswert!
Juan Tallon (*1975, Villardevós, Provinz Ourense, Spanien, Journalist und Schriftsteller, hat für verschiedene Printmedien (u.a. La Región, Jot Down, El Progreso) und das Radio (Cadena SER) gearbeitet. Seine Werke bewegen sich schon früh zwischen Kritik, Essay und Fiktion, springen gerne im Geschehen vor und zurück und sind reich an Geschichten, Anekdoten und Kuriositäten. Nach seinen ersten Romanen auf Galizisch (A pregunta perfecta, 2011 und Fin de poema, 2013) erscheint 2013 El váter de Onetti auf Spanisch, 2018 befasst er sich in Salvaje Oeste mit Machtfragen im zeitgenössischen Spanien und mit Rewind, in dem er ein tragisches Ereignis erneut polyperspektivisch darstellt, wechselt Tallón 2020 zum renommierten Anagrama-Verlag.
Obra maestra ist eingeteilt in vier in etwa gleich große Teile und lässt darin die Stimmen von 76 Personen zu Wort kommen, darunter auch Autor und Bildhauer. Hat Tallón in vielen seiner Romane bekannte Dichter und Schriftsteller zum Ausgangs- und Angelpunkt seiner Texte gemacht (Roberto Bolano, César Aira, Cesare Pavese u.a.), ist es nun also ein Künstler und sein Werk. Serra ergreift als einziger mehrmals das Wort und erscheint so als die Basis des Romans, zu dem die Lektüre stets zurückkehrt.
Equal Parallel / Guernica-Bengasi entstand 1986 als Auftragsarbeit für die Eröffnungsausstellung des staatlichen Museums Reina Sofia in Madrid. Nach knapp zwei Jahren wurden die Skulpturen der Installation eingelagert. Als die Museumsdirektorin Ana Martínez de Aguilar das Werk 2005 erneut präsentieren wollte, war es nicht aufzufinden, was das Museum jedoch erst einige Monate später öffentlich machte. Die Suche blieb erfolglos und wurde eingestellt. In Absprache mit dem Museum schuf Richard Serra eine Replik der Skulpturen, die seit 2009 permanent im Südwestflügel des Sabatini-Gebäudes des Reina Sofia ausgestellt sind.
Serra gibt in seinen Passagen Einblicke in sein Kunstverständnis, seine Interessen, seine Vorgehensweisen, sein Leben; all diese Aspekte und Bereiche werden ergänzt durch die Blickwinkel der unterschiedlichsten Personen. Das geht vom Madrider Kulturstadtrat, über Serras alten Freund , den Musiker und Komponisten Philipp Glass, der sich an ihre Anfangszeiten der 1960er Jahre erinnert, über die Museumsaufsichten im Museum Reina Sofia, über Serras Frau Clara Weyergraf, die ein Gespräch über die verlorene Skulptur mit der berühmten Kuratorin und Begründerin des Reina Sofia, Carmen Giménez, wiedergibt; es geht über seinen Galeristen in Spanien, über einen Ingenieur und Experten in Stahlproduktion, über den berühmten baskischen Bildhauer Jorge Oteiza bis zu dem Blickwinkel des Autors Juan Tallón selbst. Das letzte Wort jedoch hat Matías Amarillo, der Sicherheitschef des Reina Sofia. Er wird in einen Vorort Madrids gebeten, weil man dort die verschwundene Skulptur gefunden zu haben glaubt ...
Parallel zu Serra werden auch einzelne seiner Werke besonders in den Vordergrund gerückt: „El Mur“ in einem Neubaugebiet von Barcelona war 1984 sein erstes öffentliches Werk in Spanien. „Tilted Arc“ von 1981 auf der Federal Plaza in New York erfuhr eine solche Polemik, dass die Skulptur acht Jahre später entfernt wurde. An diesem Fall zeigt sich ganz deutlich Serras Verständnis seiner Skulpturen als ortsspezifische Arbeiten – außerhalb des Ortes, für den sie geschaffen sind, verlieren sie ihren Status als Kunstwerk. „House of Cards“ oder „One Ton Prop“ gehören zu seinen früheren Werken aus den Endsechziger und siebziger Jahren, als er noch mit Blei arbeitete. Im Roman schildert ein Mitarbeiter einer Transportfirma, wie Serra die Skulptur am Ende einer Ausstellung einschmelzen ließ, um sie am nächsten Ausstellungsort wieder herstellen zu lassen – ein klares Beispiel der Kunst als Konzept (und im Grunde ein Vorbild für die Replik von Equal Parallel). Serras bedeutendste Werkgruppe „The Matter of Time“ ist im Guggenheim Museum Bilbao zu sehen. Nachdem der einflussreiche Kunstkritiker Robert Hughes durch den größten Saal des Frank Gehry-Gebäudes gegangen war, adelte er Serra als: „not only the best sculptor alive, but the only great one at work anywhere in the 21st century“.
Das liest sich jetzt etwas wie ein kunstwissenschaftlicher Text, aber inhaltlich werden diese Details von den 76 Augenzeugen des Buches zusammengetragen. Das Buch wirft auch Fragen nach der Funktion von Kunst auf, was ein Kunstwerk für verschiedene Menschen bedeutet, wann etwas zu Kunst wird und wie es plötzlich zum Alltagsgegenstand zurückkehren kann. Es fragt nach dem Original und der Kopie, ob Kunst für alle oder nur für einige wenige sein darf. Es beleuchtet die Maschinerie eines Museums, die Arbeit von Galerien, die Positionen von Kunstkritikern und -historiker sowie den Kunstmarkt im Allgemeinen. Es lässt Künstler, Musiker, Tänzer zu Wort kommen. Und es stellt auch die Frage, ob Kunst politisch sein kann oder soll. Der Titel Equal Parallel / Guernica-Bengasi ist einzig in Serras Œuvre, begreift Serra seine Werke doch nie als Mahnmale historischer Ereignisse. Mit diesem Titel setzt er jedoch klar zwei militärische Angriffe parallel, bei denen eine große Zahl an Zivilisten umkamen: die Bombardierung der lybischen Stadt Bengasi 1986 durch die amerikanische Streitkräfte und die Bombardierung des baskischen Gernika 1937 durch die Legion Condor. So wird dann auch Picassos berühmtestes Werk „Guernica“, das nicht weit entfernt von Serras 38 Tonnen schweren Stahlblöcken im gleichen Gebäude ausgestellt ist, zum Thema einiger Seiten.
Auch wenn Obra maestra eine ausgesprochene Freude für einen Fan von Richard Serras Werk und der spanischen Kulturlandschaft ist, bietet der Roman auch für Leser ohne diese Vorlieben eine gehörige Portion sprachlicher Verve, gut beobachteter Personenschilderungen und detektivischer Kleinarbeit. Ich empfehle eine Übersetzung, wobei fachspezifische Termini rund um die Stahlproduktion und die Museumswelt vonnöten sind.
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