NSB: Als Übersetzer und Schriftsteller haben Sie eine besondere Beziehung zur übersetzten Literatur. Bevorzugen oder neigen Sie zu einem bestimmten deutschen Autor?
JGB: Das Werk von W.G. Sebald war zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens von großer Bedeutung und ist es auch noch heute in vielerlei Hinsicht. Ich teile mit ihm die Leidenschaft für die Vergangenheit und die Art und Weise, wie er diese Leidenschaft in Schriftform umwandelt, beeindruckt mich tief. Da ich nicht Deutsch spreche, habe ich seine Bücher übersetzt gelesen. Wunderbare Übersetzungen stammen von Michael Hulse, Anthea Bell (ins Englische) oder Miguel Sáenz (ins Spanische). Neben Sebald fallen mir keine weiteren Schriftsteller ein, sondern Bücher, und davon gibt es viele: Von Michael Kohlhaas über „Der Mann ohne Eigenschaften“ bishin zu „Korrektur“ von Thomas Bernhard, es gibt viele Bücher in deutscher Sprache, die für mich von Bedeutung sind.
NSB: Welche Bedeutung hat für Sie die Arbeit eines Literaturübersetzers? Haben Sie Kontakt zu Ihrer Übersetzerin für die deutsche Sprache Susanne Lange?
JGV: Der Literaturübersetzer ist ein Engel, dem wir alles zu verdanken haben. Ich wäre kein Schriftsteller geworden, wenn ich nicht die Werke von Tschechov, Tolstoi oder Dostojewski gelesen hätte. Und ich spreche kein einziges Wort Russisch. Damit möchte ich sagen, dass ich mich über die Wörter der Übersetzer gebildet habe und dies vergesse ich nicht so einfach. Ja, ich kommuniziere oft mit Susanne Lange. Susanne ist eine sehr aufmerksame, genaue und rigorose Leserin. Die Beste überhaupt und außerdem eine hochtalentierte Prosaschriftstellerin. Die Arbeit von Susanne ist unverzichtbar, nicht nur aufgrund ihrer Magie in der Übersetzung, sondern auch weil sie meine Werke mit geschultem Auge liest und ihre Kommentare mich zu Verbesserungen meiner Werke geführt haben.
NSB: Wie sehen Sie das aktuelle Panorama Lateinamerikas für die spanische Literatur nach dem Boom des Magischen Realismus der letzten Jahrzehnte?
JGV: Der Magische Realismus ist nur eines der Instrumente, die von lateinamerikanischen Schriftstellern erfunden wurde. Es wäre nicht gerecht die Literatur Lateinamerikas nur auf dieses Phänomen zu reduzieren. Borges, Onetti, Vargas Llosa und Fuentes gehörten nicht der Bewegung des Magischen Realismus an und dennoch sind ihre Werke genauso wichtig, wie das Buch 100 Jahre Einsamkeit es für mich mit 16 Jahren war. Das aktuelle Panorama ist sehr reich: Von Ricardo Piglia, der um die 70 Jahre alt ist, bis hin zu meiner Generation, gibt es viele Schriftsteller, die seriös und talentiert schreiben.
NSB: Nachdem Sie viele Jahre in Europa (Paris und Barcelona) gelebt haben, sind Sie nun in Ihr Geburtsland Kolumbien zurückgekehrt. Wie beeinflusst Sie diese Entscheidung in Ihren literarischen Projekten?
JGV: Dieses frage ich mich auch. Selbstverständlich ist die Erfahrung eine ganz andere: Einen Roman wie „Die Informanten“ oder „El ruido de las cosas al caer“ verursacht gewisse Schwierigkeiten, aber auch Herausforderungen. Ich habe gerade einen Kurzroman zu Ende geschrieben, die fast ganz in Kolumbien geschrieben wurde, und ich merke, dass sich etwas geändert hat. Aber letztendlich wird der Leser uns sagen, ob es auch tatsächlich so ist.
NSB: Es existiert de lateinamerikanische Tradition, dass sich ein Schriftsteller nicht nur einem Genre widmet, z.B. nur Romane schreiben. Sie arbeiten eng mit Zeitschriften zusammen und halten Interviews. Welches ist Ihr Lieblingsgenre? Ist es für Sie bereichernd zwischen den Genres zu wechseln und auch unterschiedlichen Themengebiete anzugehen oder konzentrieren Sie sich lieber auf das Schreiben von Romanen?
JGV:Die lateinamerikanischen Schriftsteller haben eine recht nüchterne Beziehung zum Journalismus, im Allgemeinen bestreiten sie mit dieser Arbeit ihren Unterhalt, während sie sich dem Schreiben von Romanen widmen. So ist es auch mir ergangen. Aber wie es uns lateinamerikanischen Schriftsteller auch oft passiert, verlieben wir uns letztendlich in diese neue Erfahrung die Welt zu sehen und nun arbeite ich in dieser Branche aus Überzeugung und Leidenschaft. Der Journalismus zwingt uns die Welt radikal anders als im Roman zu sehen. Dieser Betrachtungswechsel ist extrem bereichernd.
NSB: Der deutsche Verlag Schoeffling veröffentlicht dieses Jahr die deutsche Version Ihrer Erzählungen „Die Liebenden von Allerheiligen“. Im Allgemeinen wird der deutsche Markt so eingeschätzt, dass Kurzerzählungen nur dann auf dem Zielmarkt veröffentlicht werden, wenn der Schriftsteller mit Romanen bei den Lesern konsolidiert ist. Sie haben nicht nur eine hohe Leserschaft in Deutschland zu verbuchen, sondern Ihre Werke sind in 16 Sprachen übersetzt. Werden Sie von dieser großen internationalen Leserschaft in Ihrer Arbeit beeinflusst?
JGV: Nein, ich glaube nicht. Ich schreibe nicht für die abstrakte Masse der Leserschaft, sondern für den einzelnen Leser. Ein Leser, der mir gleicht, der ähnliche moralische, emotionale und historische Belange wie meine hat; der ähnliche Vorlieben für die Literatur hat, ich möchte nicht sagen gleiche. Ich glaube, dass wenn ich für diesen Leser schreibe und ich es mit Genauigkeit und Respekt vor seiner Intelligenz tue, das Buch am Ende viele Leser weltweit erreichen wird, die am Ende wie ich sind: eine Gemeinschaft.
Juan Gabriel Vasquez (c)
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