FEATURE-ARCHIV
Den Mann hielt es kaum auf dem Stuhl. Aus der Hüfte nahm er Schwung und reckte sich nach vorn, den linken Arm gerade durchgedrückt, den Zeigefinger auf die Runde richtend. Ein Meisterwerk sei das, krähte er in die Runde, ein ganz großes Meisterwerk. Kein Buch habe er in den letzten Jahren mehr gelesen, das ihn so tief getroffen habe. Überzeugt sei er, und scheue sich auch nicht, es zu sagen, dass es sich um ein geniales Buch handele. Und auch das war klar: Sein Autor gehört zu den ganz Großen: „Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt.“
Was für ein Lob – und dann noch aus dem Mund von „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, dem Chefkritiker des „Literarischen Quartetts“, der populärsten Literatursendung, die jemals im deutschen Fernsehen lief. Eines war klar nach diesem Satz: Mit diesem Marías würde es steil bergauf gehen. Und zwar am nächsten Tag schon, pünktlich um halb zehn, wenn die Buchläden öffneten. Und so konnte man im Juni 1996 einem Bestseller bei der Geburt zuschauen, miterleben, wie ein in Deutschland bislang völlig unbekannter Autor aus dem Nichts und über Nacht zum literarischen Star wurde.
Mein Herz so weiß hieß Marías´ Buch. Ein Zitat, aus Shakespeares Macbeth, verpflanzt aus der Renaissance in die Gegenwart. „Das ist richtig moderne Literatur“, schwärmte eine Freundin, „das spiegelt wunderbar das Lebensgefühl von heute: elegant, verspielt und traurig, aber zugleich mit viel Humor.“ Sie kam aus dem Schwärmen nicht mehr heraus, auch bei den anderen, späteren Büchern nicht. Sie liebte diesen Autor, er wurde ihr Lieblingsschriftsteller, und zwar nicht weil, sondern obwohl er Spanier war. Denn mit der spanischen Literatur hatte sie es bis dahin überhaupt nicht.
Denn spanische Literatur, das waren für sie vor allem garstige alte Männer. Schriftsteller wie Camilo José Cela etwa, der irgendwie brutal auf sie wirkte, die arrogante Macht der Franco-Diktatur ausstrahlte. Und die, die sich dieser Macht entgegenstellten, Ramón Sender, Miguel Delibes, Juan Goytisolo etwa, sie umgab etwas tief Melancholisches, eine zornige Traurigkeit, die ihr, der unbeschwerten Leserin aus dem Rheinland, ebenfalls fremd war. Andere Leser hingegen zog gerade diese Aura des Tragischen an. Sie reichte weit zurück hinter die Francozeit, mindestens bis zu den strengen „Katholischen Königen“ des 15. Jahrhunderts, durch deren karges Land hundert Jahre später Don Quijote ritt, ein weltfremder Melancholiker auf Gespensterjagd. Im 20. Jahrhundert folgten ihm weitere Herren – und Damen – von trauriger Gestalt: Antonio und Manuel Machado, Miguel de Unamuno, Carmen Laforet, Ana María Matute und natürlich der literarische Übermensch, der in Deutschland bekannteste spanische Dichter überhaupt, Federico García Lorca.
Und dann also, am Ende des Jahrhunderts: Javier Marías. Von ihm konnte man lernen, wie sehr sich die spanische Literatur in den letzten Jahren geändert hat: Sie ist nach wie vor ernst, zugleich aber auch leichter, eleganter. Als Franco, der greise General, im November 1975 starb, brachen die Spanier sofort in Richtung Zukunft auf. Und mit ihnen natürlich die Autoren. Natürlich schrieben sie auch über die bleiernen Jahre, den Bürgerkrieg und die Diktatur. Das tun sie bis heute. Aber sie schreiben auch, und inzwischen sogar vor allem, über ganz andere Themen. Und so vielfältig diese Themen, so unterschiedlich sind die Künstler und Charaktere, die sich ihnen widmen. Und sie, die neue Welle der spanischen – und lateinamerikanischen – Literatur, will die Initiative New Spanish Books den deutschen Lesern vorstellen.
New Spanish Books? Warum nicht Nuevos libros españoles? Weil sie sich an alle Leser richtet. New Spanish Books wendet sich natürlich auch an die Liebhaber, die apasionados der spanischen Literatur, die die Bücher am liebsten im Original lesen. Aber sie spricht auch das große Publikum an, diejenigen, die spanische Literatur in deutscher Übersetzung lesen und auch in Zukunft mit attraktiven Titeln rechnen. Ihnen stellt New Spanish Books Bücher vor, die noch nicht übersetzt sind, aber allen Grund haben, übersetzt zu werden.
Die Jury – eine Übersetzerin, eine Literaturwissenschaftlerin, ein Buchhändler, ein Lektor, ein Journalist – hatten eine Menge Stoff zu bewältigen: Gut 200 Bücher waren in die Vorauswahl gekommen. 15 wurden am Ende ausgewählt. Die 15 Besten? Hoffentlich. Doch wer wollte sich ein endgültiges Urteil schon zutrauen? Aber soviel kann man sicher sagen: Es sind keine schlechten Bücher. Alle 15 Bücher haben etwas zu sagen. Manche richten sich an junge bis ganz junge Leser, andere an die älteren. Kinderbücher sind dabei, leichte Romane und etwas schwierigere, dazu Sachbücher, Foto- und Kunstbände. Entlegenes ist darunter, etwa das Buch über den mexikanischen Totenkult. Und ein ganz neues Genre, die graphic novel, ein Roman in Bildern, fast schon ein Comic. Aber auch ein großer Band über den Flamenco: so großartig die Fotographien, so wohltuend nüchtern der Text, die nicht den üblichen Phantasien und Phrasen über Ursprung und Geschichte dieser rauen Kunstform folgen, sondern sich an die Ergebnisse der jüngeren Forschung halten. Flamenco, erfährt man hier, ist die andalusische Antwort auf nordeuropäische Spanienphantasien. Überhaupt die Phantasien, auch die politischen: Fernando Aramburu und José L. Caballero erzählen auf ganz unterschiedliche Weise vom Terror im Baskenland und denen, die den Einflüsterungen der Propagandisten erliegen. Gewalt, geben die Autoren zu verstehen, entspringt meist böse verwundeten Seelen. Aber man kann auch anderswo leicht verrückt werden, zeigt uns Alberto Olmos: In den europäischen Metropolen zum Beispiel. In ihnen leben zwar unendlich viele Menschen, aber in den Labyrinthen der Einsamkeit kann man sich trotzdem leicht verlieren. Verlieren kann man sich aber auch in der Literatur. Der guatemaltekische Autor Eduardo Halfon beschreibt den Roman als gar nicht so harmlose Falle: Man findet zwar leicht hinein – aber gar nicht mehr leicht hinaus. Aber auch Geschichte und Geographie haben ihre Tücken: Andrés Pascual schickt seinen Helden auf kriminalistische Spurensuche nach Tibet, wo er die Geheimnisse des Buddhismus aus überraschender, durchaus ungemütlicher Perspektive kennenlernt; und Luis García Jambrina führt seine Leser zurück in jene Zeit, in der Ferdinand und Isabella den Mythos vom strengen katholischen Spanien so wirkungsvoll begründeten.
Viele Autoren und ebenso viele Anliegen, Erzählformen, Sprachstile. Über einen Kamm scheren lassen sie sich nicht. Aber wenn man doch etwas Gemeinsames, Verbindendes zwischen ihnen sehen wollte, dann sicher dieses: Alle beschreiben sie Spanien nicht mehr als mythischen, sondern als modernen Lebensraum. „Spain is different“ ließ Franco einst die Kreativabteilung seines Tourismusministeriums behaupten. Aber das ist lange her, und viel hat sich seitdem getan. Spanien ist nicht Deutschland, natürlich. Aber Deutschland und Spanien sind beide europäisch. Und die Menschen beider Länder machen mit Europa, machen mit und in Europa neue, teils ernüchternde, teils erregende Erfahrungen. Was trennt diese Eindrücke, was eint sie? Und wie verhalten sich die europäischen zu lateinamerikanischen Perspektiven? Das kann man kaum anschaulicher erfahren als in der Literatur. Und besonders anschaulich, hofft jedenfalls die Jury, in den hier ausgewählten Bänden. Sie wünscht allen 15 Titeln eine gute Landung auf dem deutschen Markt und eine freundliche Aufnahme durch die Kritik. So dass man auch von diesen Büchern eines Tages sagen kann: Von führenden Literaturpäpsten empfohlen.
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Martina Streble ist Gründerin des noch jungen Verlags „Edition Helden“, der auf Kindercomics spezialisiert ist. Frau Streble, Sie haben im Jahr 2022 einen Verlag für Kindercomics...
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