Ein Buch wie ein Schlag in die Magengrube. Schonungslos erzählt Brenda Navarro in Ceniza en la boca von einer dysfunktionalen Familie, von Armut, Ausbeutung und der Ausweglosigkeit, der die schwächsten Glieder der Gesellschaft ausgeliefert sind. Ob in Mexiko oder in Europa, Gewalt herrscht überall, auch wenn sie sich diesseits oder jenseits des Atlantiks in verschiedenen Formen zeigt. Was Brenda Navarro bei der Spurensuche, wie es zum Selbstmord des Bruders der Erzählerin kam, zutage befördert, ist große Literatur. Dieses Buch verdient viele Leser!
Dass Brenda Navarro mit Feingefühl diffizile Seelenlagen und verschiedenste Lebenswelten auszuloten vermag, hat sie bereits mit ihrem ersten Roman Casas vacías (2020) unter Beweis gestellt, für den sie 2020 mit dem Premio Tigre Juan für den besten spanischsprachigen Roman ausgezeichnet wurde. Ceniza en la boca ist ihr zweiter Roman. Dem deutschen Publikum ist die junge mexikanische Autorin bisher noch unbekannt.
Schon auf den ersten Seiten des Romans erfährt der Leser, dass sich Diego, der Bruder der namenlosen Ich-Erzählerin aus Brenda Navarros Ceniza en la boca umgebracht hat. Das Bild, wie der Körper des Bruders nach dem Sturz aus dem fünften Stock auf dem Pflaster aufschlägt, verfolgt die Ich-Erzählerin, die sich in einem inneren Monolog auf Spurensuche begibt, wie es dazu kommen konnte. Dabei folgt die Erzählung nicht dem chronologischen Ablauf der Ereignisse, sondern springt, dem Erinnerungs- und Verarbeitungsprozess ähnlich, hin und her., sodass sich für den Leser erst allmählich ein Puzzle zusammensetzt und anfängliche Gewissheiten im Verlauf der Erzählung infrage gestellt werden. Mal ist der Monolog eine wütende Abrechnung mit der Mutter, die die beiden Geschwister in der Kindheit verlassen hat, mal schonungsloses Rekapitulieren des Lebensweges der beiden Geschwister, mal ernüchterte Erkenntnis, dass auch sie selbst Verantwortung trägt. Und so folgt die Erzählung den entscheidenden Stationen im Lebensweg einer Familie, die vom Schicksal alles andere als verwöhnt wurde.
Die beiden Geschwister wachsen in Mexiko-Stadt auf. Die Ich-Erzählerin ist das uneheliche und als solches auch unwillkommene Kind der Mutter, während der kleine Diego aus der späteren kurzen Ehe mit einem viel zu früh verstorbenen Ehemann hervorgeht. Nach dem Tod ihres Mannes geht die Mutter der beiden nach Madrid, um dort als Pflegekraft Geld zu verdienen, und lässt die Kinder in der Obhut der Großeltern zurück. In der Erinnerung der Ich-Erzählerin ist dies eine schöne Zeit, sie fühlt sich bei den Großeltern geborgen, auch wenn diese sie spüren lassen, dass sie, anders als Diego, kein Wunschkind war. Es ist ihre Aufgabe, sich um den kleinen Bruder zu kümmern, dem sie – selbst noch ein Kind – so gut wie möglich die fehlende Mutter ersetzt. Für ihre Mutter, die allen Versprechungen zum Trotz, nie zurückkehrt und sie nie besucht, hat sie nur Verachtung übrig. Sie fühlt sich verraten und im Stich gelassen.
Erst Jahre später holt die Mutter die beiden nach Spanien nach – wie der Leser gegen Ende des Romans erfahren wird, weil die Ich-Erzählerin ihren jüngeren Bruder dazu veranlasst hat, bei der Mutter zu insistieren, da sie aus Eifersucht und Liebeskummer das Leben in der engen Siedlung nicht länger ertragen kann, wo sie damit konfrontiert wird, für den Jungen, in den sie verliebt ist, nicht mehr als eine schnelle, billige Affäre zu sein.
Mit dem Umzug nach Madrid verlieren sowohl Diego als auch die Ich-Erzählerin den Halt und die Geborgenheit, die ihnen das Leben bei den Großeltern aller Armut zum Trotz gegeben haben. Diego besucht die weiterführende Schule, weil alle Hoffnungen der Familie darauf liegen, dass er im Leben etwas aus sich machen soll. Die Ich-Erzählerin nimmt dagegen, wie schon ihre Mutter, verschiedene prekäre Jobs als Kindermädchen oder Pflegerin alter, gebrechlicher Senioren an. Sie sieht für sich selbst keinen Ausweg aus diesen Verhältnissen.
Beide Geschwister erleben in Spanien mehr noch als in Mexiko, was es heißt, arm und randständig zu sein. Sie erfahren offenen Rassismus durch Lehrer, Mitschüler, Arbeitgeber, Nachbarn oder die Polizei, sie werden ausgebeutet, diskriminiert und mit der Drohung, abgeschoben zu werden, in ihrem Zorn immer wieder zum Schweigen gebracht.
Die Ich-Erzählerin versucht, sich durch einen Umzug nach Barcelona von einer Mutter zu befreien, der sie nicht verzeihen kann, dass diese ihre Kinder allein gelassen hat. Doch auch in Barcelona gelingt es ihr nicht, sich aus den prekären Verhältnissen zu befreien. Diego dagegen entwickelt sich in Madrid nach dem Verlust des letzten Halts mehr und mehr zu einem aufmüpfigen jungen Mann, der mit dem permanenten Druck, der auf ihm lastet, den Erwartungen einerseits und der Ablehnung andererseits, nicht klarkommt und zunehmend wütend um sich schlägt.
Nach seinem Selbstmord übernimmt wieder die Ich-Erzählerin die Verantwortung. Während ihre Mutter zusammenbricht, überführt die Schwester die Asche des Verstorbenen nach Mexiko. Sie kehrt in ein Land zurück, das sie nun ganz anders erlebt als die von ihr idealisierte Heimat der Kindheit. Drogenkrieg, Frauenmorde und die allgegenwärtige Gewalt machen auch vor ihrer Familie und ihrem engsten Umfeld nicht halt. Ernüchtert kehrt sie schließlich nach Spanien zurück und verfällt in eine depressive Apathie, sodass ihr mangels Arbeitsstelle nun tatsächlich die baldige Abschiebung droht.
Brenda Navarros Ceniza en la boca ist eine schonungslose Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der Armut und Not zur Ausbeutung führen und in der offener Rassismus schöngeredet und geduldet wird. Dabei geht die Ich-Erzählerin mit allen streng ins Gericht und spart auch die eigene Verantwortung für das Scheitern der Familie nicht aus.
Die Erzählung dringt spiralförmig immer tiefer in die Erinnerung und die verschiedenen Facetten des Lebens vor. Sie kehrt wiederholt zu bestimmten Zeitpunkten und Aspekten zurück und schaut jedes Mal etwas genauer hin. Schicht um Schicht deckt die Erzählerin so die Lebenslügen und Illusionen auf. Was als harsche Abrechnung mit der Mutter beginnt, wird im Laufe des Romans zum Eingeständnis auch des eigenen Versagens und zur Analyse von Verhältnissen, denen im Grunde niemand entkommen kann.
Besonders eindringlich gelingt der Erzählerin die Schilderung des prekären Lebens der rechtlosen Pflegerinnen aus Lateinamerika, die in Spanien herumgeschubst werden und selbst schlimmste Arbeitsverhältnisse klaglos ertragen müssen. Die Ich-Erzählerin lebt mehrfach als Pflegekraft bei betagten Spanierinnen und wird von den Pflegebedürftigen selbst oder deren Angehörigen oftmals schlecht behandelt. In Form von Verwahrlosung, Entrechtung oder arroganter Überheblichkeit herrscht auch im reichen Europa ein Klima der Gewalt, das zwar verdeckter ist als die offene, brutale Gewalt in Mexiko, letztlich aber dennoch nur eine andere Seite derselben Medaille ist. Bezeichnend ist etwa das Verhalten einiger spanischer Studentinnen, die sich unter dem Banner des Feminismus einer Protestbewegung der lateinamerikanischen Hilfskräfte bemächtigen und die Frauen, um deren Rechte es eigentlich geht, ebenso paternalistisch bevormunden, wie sie es den ausbeuterischen Arbeitgebern vorwerfen.
Brenda Navarro gibt ihrer Ich-Erzählerin eine direkte, harte Sprache, mal lakonisch, mal ironisch, zumeist aber zornig und gnadenlos ehrlich. Ceniza en la boca ist ein Roman, der mit heißem Herzen geschrieben wurde, und der sicher keinen Leser kalt lässt.
Fazit: Der kurze Roman von Brenda Navarro entfaltet eine ungeheure Wucht und gibt Menschen eine Stimme, die in der Literatur wie auch im wahren Leben allzu oft übersehen werden. Dieser großartige Text geht unter die Haut und ist eine klare Empfehlung!
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