Der großartige Roman erzählt von einer Schwangerschaft und einer Abtreibung und untermalt die persönliche Erfahrung der Ich-Erzählerin gekonnt mit einem ganzen Katalog an wissenschaftlichen, literarischen und historischen Informationen, die einerseits der Erzählerin helfen, ihre Gefühle und ihren körperlichen Zustand besser verstehen und beschreiben zu können, und andererseits einfach der Aufklärung und Information dienen.
Marta Barrio ist eine junge Autorin, Leña menuda ist ihr zweites Buch. Das erste, Los gatos salvajes de Kerguelen ist ein Jahr davor, 2020, im Verlag Altamarea unter dem Namen Marta Barrio García-Agulló erschienen. Leña menuda hat 2021 den Premio Tusquets de Novela gewonnen.
Der Roman schildert die Geschichte einer Abtreibung, fängt aber natürlich mit der Schwangerschaft an. Die Ich-Erzählerin, 30 und in einer Beziehung, wird schwanger und das Paar will das Kind auch bekommen. Nachdem sie in der 30. Schwangerschaftswoche in einem Park von Hunden angegriffen wird und hinfällt, entdeckt ein Arzt bei einer Ultraschalluntersuchung eine Achondrogenesie, eine schwere Missbildung des Fötus, die zu einer Totgeburt oder dem Tod des Neugeborenen nach wenigen Tagen führt. Da eine Abtreibung in Spanien trotz dieser Umstände nicht legal möglich ist, reist die Erzählerin nach Brüssel zu einer Freundin und lässt dort für 10.000 Euro eine Abtreibung durchführen. Sie braucht eine ganze Weile, um das traumatische Erlebnis zu verarbeiten, schafft es aber, unter anderem durch einen Aufenthalt im Haus ihrer verstorbenen Großmutter in San Lorenzo de El Escorial, einem Ort ihrer Kindheit also, und durch ein Beerdigungsritual, mit der Trauer abzuschließen.
Was den Roman besonders bitter macht, ist die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin, die Schriftstellerin sein will, das Buch als eine Art Schwangerschafts-Logbuch beginnt. Sie freut sich auf das Kind, sie hat eine App, in der die Größe des Fötus mit Früchten oder Tieren verglichen wird, eine Pflaume oder ein Kolibri, eine Kiwi oder ein Küken. Dabei schildert sie ihre Wahrnehmung der körperlichen Veränderung, beschreibt die teilweise distanzierten Reaktionen ihrer Umwelt, und auch ihre Unsicherheit darüber, wie sich ihr Leben durch das Muttersein verändern wird, da die Sorgearbeit auch im 21. Jahrhundert mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Frau liegt (da sie einen schlechteren Job hat als ihr Partner). Das „Logbuch“ wird dann weitergeführt, obwohl die Schwangerschaft nicht mehr zu einem Neugeborenen führt, und auch nachdem sie schon abgebrochen wurde, und das ist trotz der sachlichen Beschreibung sehr schmerzhaft. Ein Beispiel: nach der Abtreibung kommt noch Milch aus den Brüsten, vor allem, als die Nachbarn ein Kind bekommen, das man durch die Wände schreien hört, und das ist schon ohne emotionale Beschreibung entsetzlich genug.
Der Roman ist ganz wunderbar geschrieben. Der Ton ist eher sachlich, die Personen haben nicht einmal Namen, was noch dazu beiträgt – da sind die Mutter, die Stiefmutter, der Vater, aber auch der Freund der Ich-Erzählerin ist nur A., die beste Freundin B.. Manche Kapitel stehen in eckigen Klammern, sie finden sich im ganzen Buch in unregelmäßigen Abständen und enthalten literarische, wissenschaftliche, historische und politische Referenzen über Schwangerschaft und Abtreibung. Manchmal haben diese Referenzen eher eine literarische oder poetische Funktion, da sie der Erzählerin dienen, sich selbst und ihren Zustand besser verstehen und beschreiben zu können, manchmal geht es schlicht um Abtreibungspolitik. Die Bezüge – die im Lauf des Romans mehr von Schwangerschaft und Mutterschaft weg hin zu Abtreibung und Missbildungen wechseln – reichen von Mary Shelley, die ihren Roman Frankenstein schrieb, als sie schwanger war, bis zur Matriphagie bei einer Spinnenart, bei der die Nachkommen nach der Geburt die Mutter fressen. Die Erzählerin recherchiert die genauen Wortbedeutungen von „entbinden“, „Mutter“ oder „Monster“, man erfährt etwas über Tierversuche zu Schwangerschaft und Abtreibung, über die Unmöglichkeit, im Spanien der 70er Jahre abzutreiben, und dass Abtreibungskliniken immer noch von Lebensschützern belagert werden, und den abtreibenden Frauen oder dem Personal Gewalt angedroht wird. Alle diese Bezüge reichern die Geschichte an und machen sie durch den Kontext universeller und auch politischer, und alle werden immer wieder auf die persönliche Situation der Erzählerin bezogen.
Es ist ein berührendes, mitreißendes und politisches Buch, das sehr offen von den körperlichen Vorgängen bei der Schwangerschaft und der Abtreibung, und auch von den gesellschaftlichen Annahmen und Urteilen spricht. Es schafft, die sachlichen Informationen organisch in die Geschichte zu holen.
Gerade im Moment ist das Recht auf Abtreibung wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt durch die Veränderung der Gesetzgebung in den USA, und das wird das Interesse an diesem Buch sicher verstärken. Da auch die Referenzen universell sind, ist das Buch sehr gut übersetzbar. Ich würde denken, dass es nicht nur kleine feministische Verlage interessiert, sondern auch durchaus die Publikumsverlage, die ja teilweise auch entsprechende Reihen herausbringen.
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