Die sehr schön gestaltete und melancholische Graphic Novel, die sich fast nur auf Bilder verlässt, erzählt, wie eine junge Frau unter geheimnisvollen Umständen ihre Liebste verliert, und nimmt die Leserin in eine geheimnisvolle Welt mit, in der Träume, Erinnerungen und parallele Wirklichkeiten lauern. Die extreme Langsamkeit, der reduzierte Einsatz von Sprache und die Ambivalenz der Geschichte zeichnen dieses Buch aus.
Laura Pérez, die auch als Illustratorin arbeitet, hat 2019 für die Graphic Novel Ocultos – nach einer Kollaboration und mehreren kürzeren, in Sammelbänden erschienenen Geschichten ihr erstes Solobuch – viele Preise bekommen. Das hier vorliegende Tótem, das 2021 erschienen ist, führt der Kritik zufolge die ästhetische und inhaltliche Linie von Ocultos fort und hat allgemein eine sehr positive Resonanz erfahren.
Es ist nicht ganz einfach, den Inhalt von Tótem zu beschreiben, da es mehrere Geschichten gibt, Erinnerungen und Echos aus anderen Zeiten, Orten und Dimensionen, die immer wieder die Rahmenhandlung unterbrechen. Diese ist allerdings deutlich zu identifizieren und nachzuerzählen, denn sie ist in Farbe gezeichnet, im Gegensatz zu den Schwarz-Weiß-Bildern der anderen Handlungs- (oder Nicht-Handlungs-)stränge.
Carmen (sie wird lediglich in einer Erinnerungssequenz so genannt, sonst haben die Figuren meist keine Namen) erinnert sich an eine Reise mit ihrer Liebsten – so ist die Haupthandlung auch eine Erinnerung, aber zusammen mit dem Moment des Erinnerns in Farbe gezeichnet. Die beiden waren in Arizona, und neben „alltäglichen“ Begebenheiten der Reise, z.B. dass sie als lesbisches Pärchen schief angeguckt werden, wird die besondere Qualität der Region hervorgehoben: die typischen Orte wie Diner oder Motels, die Straße, die einsame und gleichzeitig überwältigende und geheimnisvolle Wüstenlandschaft. Es sind nur wenige Buchseiten, die von dieser Reise handeln, aber auf diesen Seiten wird durch die Gesprächsthemen – Gespenster, Alpträume, unerklärliche Lichtphänomene, vergrabene Leichen – und die eingefügten, schwarz-weiß gezeichneten Traum- oder Erinnerungssequenzen eine unheimliche Grundstimmung aufgebaut. Carmen hat dann noch eine böse Vorahnung, bevor die beiden kurze Zeit später einen Anhalter mitnehmen. Der will zu einem Ort im Monument Valley, das in spirituell aufgeladenem Navajo-Gebiet liegt, und lädt sie zu einem Ritual ein, das dort stattfindet. Dabei wird eine halluzinogene Droge eingenommen. Am nächsten Morgen wacht Carmen auf und ist allein, ihre Partnerin und alle anderen Teilnehmer des Rituals sind spurlos verschwunden.
Auf den letzten Bildern ist Carmen wieder in der Gegenwart in ihrer Wohnung und stellt fest, dass sie und ihre Liebste auf dieser Reise unterschiedliche Ziele hatten. Dann nimmt sie ein Bad, und neben der Wanne auf dem Wäschepuff sitzt der Geist ihrer Freundin und beobachtet sie – genau wie sie es angekündigt hatte, als die beiden in einem Diner in Arizona saßen und sich über Geister unterhielten.
Diese Rahmenhandlung ist in einen weiteren Rahmen eingebettet: Carmen erinnert sich erst an die Reise, nachdem sie einen Fernsehbericht über eine verschwundene Architektin mit japanischem Namen sieht, deren Leiche an einer ehemaligen Grabstätte im Wald gefunden wurde. Am Ende des Buches sieht man diese Frau, die in der Mitte in einer Traumsequenz mit Bäumen verschmilzt, erneut, diesmal geht sie nackt in den Wald.
Andere der schwarz-weiß gezeichneten Sequenzen zeigen das Kind Carmen, das mit einem Mann zu einer Geisterseherin im Dorf geht, und das merkwürdige Lichtkugeln sieht. Es kommt ein Mädchen vor, vielleicht ihre Liebste als Kind, das Besuch von einem toten anderen Mädchen bekommt, dem sie Spielzeug ans Grab bringt. Es gibt eine junge Frau, vielleicht Carmen, die einen schwulen Mann heiratet und einsam ist und stirbt und nicht aus dieser Welt gehen kann. (Da kaum Sprache benutzt wird, sind die Identitäten der Figuren nicht eindeutig.) Es sind Erinnerungen und Träume, oder auch andere parallele Wirklichkeiten, die höchstens einen vagen Bezug zur Rahmenhandlung haben. So wie es im Buch die alte Geisterseherin und die Anleiterin des Rituals im Navajo-Gebiet sagen: Manchmal vermischen sich die Wirklichkeiten und verbinden sich miteinander.
Die Panels zeichnen sich durch ruhige und klare Linien und eine realistische Gestaltung mit Liebe zum Detail aus. Zwei Merkmale sind besonders auffällig an diesem Comic. Erstens die extreme Langsamkeit und Ruhe der Bilder. Wäre es ein Film, könnte man es fast Zeitlupe nennen – man hat manchmal drei Panels, um eine einzige Kopf oder Handbewegung oder eben das Fehlen dieser Bewegung zu zeigen. Und zweitens der reduzierte Gebrauch von Sprechblasen, was zum Eindruck von Ruhe beiträgt und gleichzeitig zur Ambivalenz und mangelnden Klarheit der Handlung.
Tótem ist ein schön gezeichnetes, gelungenes Buch, das eine melancholische und unheimliche Grundstimmung transportiert. Aber durch die langsame und handlungsarme Erzählweise findet man nicht sofort einen Zugang. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss wie auf ein Rätsel, um Ambivalenzen und verborgenen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen – auch wenn sich trotzdem keine gültige Wahrheit aufdecken lässt – dann will man es immer wieder lesen.
Ich denke, dass die großen Comic-Verlage, die viele Graphic Novels herausgeben, an diesem Buch interessiert sein könnten.
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