Spanien ist bekanntlich das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Die alte, Befremden zum Ausdruck bringende Redewendung „das kommt mir spanisch vor“ dürfte also wohl keine Gültigkeit mehr haben. Zumindest bei der jungen Generation ist Spanisch inzwischen hinter Englisch die zweitbeliebteste Fremdsprache an den zum Abitur führenden Schulen.
Sprachen lernen und Literatur lesen sind allerdings zwei verschiedene Dinge. An den Schulen wird nicht viel Literatur gelesen, schon gar nicht im Spanischunterricht, der in der Regel ein Intensivkurs für Schüler, die Spanisch als zweite oder dritte Fremdsprache lernen, ist. Trotzdem müssen die Lehrer im Unterricht literarische Themen behandeln, weshalb sie häufig Unterrichtsmaterialien nutzen, die von entsprechenden Fachverlagen herausgegeben werden. Würde man unter den Schülern eine Umfrage durchführen – empirische Studien hierzu gibt es nicht –, wäre der bekannteste lebende Schriftsteller aus Spanien vermutlich ein Autor, der überraschenderweise auf Galicisch schreibt: Manuel Rivas. Von seiner im Jahr 1995 veröffentlichten Kurzgeschichte A língua das borboletas (auf Spanisch La lengua de las mariposas) gibt es auf dem deutschen Markt Versionen für den Unterricht – natürlich übersetzt ins Spanische - , die bei den Lehrern weit verbreitet und beliebt sind (vielleicht, weil sie ihren Unterricht dann nicht groß vorbereiten müssen; der durchschnittliche Spanischlehrer an den öffentlichen Schulen liest nämlich auch nicht viel). Die Kurzgeschichte behandelt auf wenigen Seiten die Thematik der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkriegs, ein Muss in jedem Lehrplan, was – neben der Tatsache, dass es eine Filmadaptation gibt (ideal und perfekt für all die Schüler und Lehrer, die nicht gerne lesen) - ihren Erfolg und ihre starke Präsenz im deutschen Schulsystem erklärt.
Doch wer ist der in Deutschland bekannteste lebende Autor aus Spanien, sieht man einmal von den durch die Schulen und das Schulsystem geförderten Pflichtlektüren ab? Im Unterschied zum Stellenwert von Manuel Rivas bei der jungen Generation überrascht die Antwort hier nicht sehr: Javier Marías und Carlos Ruiz Zafón.
Für die Bildungsbürger ist und bleibt Javier Marías der herausragende Schriftsteller. Unvergesslich ist für diese Leser die Lobeshymne des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett aus dem Jahr 1992, weshalb sie bis heute die Bücher von Javier Marías kaufen – auch wenn sie sich nicht besonders für die spezifischen Themen und Fragestellungen Spaniens interessieren. (Wäre er nicht vor kurzem gestorben, würde dieses Publikum Rafael Chirbes vielleicht ähnlich einordnen wie Marías.) Ruis Zafón dagegen ist ein vielleicht interessanteres Phänomen, denn seine deutsche Leserschaft umfasst sowohl die Bildungsbürger, die auch Javier Marías lesen, als auch eine breitere Leserschaft, die fast alle Bücher verschlingt, solange es sich um internationale Bestseller handelt. (Es gibt auch hierzu keine empirische Studie, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass bei ihnen Ruiz Zafón im Bücherregal neben den Romanen von Coelho, Irving oder Mankell steht.)
Aber was können wir über die momentan renommiertesten spanischen Schriftsteller sagen? Ich bin mir nicht sicher, ob diese Liste tatsächlich als Maßstab herangezogen werden kann, aber dennoch lohnt es sich, einmal einen Blick auf die spanischen Gewinner des Premio Cervantes der vergangenen zehn Jahren zu werfen. Antonio Gamoneda? Bekannt zu sein und Dichter zu sein – es gibt wohl keinen größeren Widerspruch. Juan Marsé? Nachdem er in Deutschland drei Mal den Verlag gewechselt hat – immerhin wurden fast alle seine Romane übersetzt! - verfügt er wenigstens über eine kleine Leserschaft. Ana María Matute? Sie ist bereits 2014 gestorben, aber diese großartige Autorin war nur selten mit Übersetzungen ihrer Bücher auf dem deutschen Markt präsent; manchmal taucht sie allerdings noch in Sammelwerken für den Schulunterricht auf, wie Rivas. José Manuel Caballero Bonald? Gänzlich unbekannt, sogar unter Fachleuten. Juan Goytisolo? Eine unverzichtbare Größe für Philologen, ansonsten wenig gelesen. Eduardo Mendoza? Den kennt man, in der Tat. Aber dafür hat er erst einmal einen Roman über Angela Merkel schreiben müssen.
Ein weiterer interessanter Fall unter den renommierten Schriftstellern ist Enrique Vila-Matas, allgegenwärtige Größe in den literarischen Zirkeln Spaniens. In Deutschland dagegen ist Vila-Matas bis heute ein Autor für eine Handvoll Eingeweihte. Zwar sind einige seiner Romane inzwischen übersetzt worden, seine herausragende Stellung in Spanien unterscheidet sich aber sehr von seiner Bedeutung hierzulande. Es scheint unmöglich zu sein, in einer Gesellschaft, die nicht die eigene ist, relativ niedrige Verkaufszahlen mit dem Ansehen als Intellektueller zu pushen.
Neben diesen preisgekrönten spanischen Autoren und den einzigen Bestsellerautoren Ruiz Zafón und Marías gibt es eine ganze Reihe von Schriftstellern, die in Spanien sehr angesehen sind und deren Bücher sich dort gut verkaufen, die sich aber nie dauerhaft auf dem deutschen Markt etablieren konnten. Die Verlage geben zwar keine exakten Verkaufszahlen bekannt, aber es gab zumindest eine Zeit, zu der Antonio Muñoz Molina, Arturo Pérez-Reverte, Rosa Montero und Almudena Grandes mit einem gewissen Erfolg verlegt wurden. In den vergangenen zehn Jahren sind sie allerdings an den Rand gedrängt worden. Kommerziell wurden sie von Schriftstellern wie Jaume Cabré, Ildefonso Falcones, Care Santos und Félix J. Palma abgelöst. Doch ihr relativer Erfolg hat wenig mit den Besonderheiten des deutschen Marktes zu tun, sie funktionieren alle auch international.
Ich möchte dieses Panorama der in Deutschland bekanntesten lebenden Schriftsteller aus Spanien mit einer persönlichen Anmerkung abschließen, die die Unwägbarkeiten des Marktes und den Einfluss von Faktoren aufzeigt, die außerhalb der Literatur liegen. Während meiner zehn Jahre als verantwortlicher Lektor bei Wagenbach waren die beiden spanischen Autoren mit den größten Verkaufserfolgen – ich spreche von Erfolg im Bewusstsein, dass dieser Begriff relativ ist, insbesondere wenn es sich um einen kleinen Verlag handelt – überraschenderweise Najat El Hachmi und Javier Sebastián, also zwei Autoren, die in Spanien nicht gerade zu den bekanntesten zählen. Das Erscheinen der deutschen Ausgabe des ersten Romans von El Hachmi, L’últim Patriarca, fiel mit dem Arabischen Frühling und dem Sturz Mubaraks in Ägypten zusammen, weshalb die begeisterten Kritiker glaubten, in der Emanzipation der aus Marokko stammenden und in Katalonien lebenden weiblichen Romanfigur eine Art politischer Allegorie erkennen zu können. Die deutsche Übersetzung von El ciclista de Chernóbil von Sebastián, einem Roman, der den Opfern von Tschernobyl gewidmet ist, traf wiederum mit der Katastrophe von Fukushima zusammen, was anscheinend das Interesse des Publikums weckte. In beiden Fällen hat der politische Moment Romane gefördert, die unter anderen Umständen keine zweite Auflage erreicht hätten. Es handelt sich zudem um Romane mit universellen Themen und wenig iberischem Lokalkolorit. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die deutschen Leser ausnahmsweise einmal nicht auf die Redewendung „das kommt mir spanisch vor“ zurückgreifen mussten, um ihre Unkenntnis der spanischen Literatur zum Ausdruck zu bringen, die in gewisser Weise bis heute anhält.
Marco Thomas Bosshard
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