Die novela gráfica erfreut sich in Spanien größter Beliebtheit. Das Genre begeistert vor allem junge Menschen. Es bietet ihnen Gelegenheit, sich mit den unterschiedlichsten Aspekten ihres Landes auseinanderzusetzen, der Vergangenheit ebenso wie der Gegenwart. Schon durch die Auswahl der Themen zeigt sich: Die novela gráfica ist mehr als Unterhaltung. Sie ist die junge Schwester des Romans.
Volle Hallen, hunderte, überwiegend junge Menschen, die sich durch die Gänge drängen. Vor ihnen prall gefüllte Regale, mit bunter, kunstvoll animierter Ware: Bunte Titel, großformatige Cover im Farbenrausch. Nicht minder bunt sind Teile des Publikums: skurril verkleidete Besucher, im Stil irgendwo zwischen Robin Hood und Supermann, dem Frosch Kermit aus der Sesamstraße und dem finsteren Darth Vader aus Starwars. Aber auch ganz andere, viel unauffälligere Besucher. In schlichter Alltagskleidung, eher ernst dreinschauend und vor allem in der Regel ein klein wenig älter. Aber alle eint sie die gleiche Begeisterung für ein Genre, das seit zwei, drei Jahrzehnten immer mehr Menschen anzieht: die graphic novel, oder, auf Spanisch, die novela gráfica. Kunstvoll illustrierte Geschichten - die Vereinigung von Sprache und Zeichnung, die Kraft von Bildern, deren Intensität den schlichten Comic früherer Zeiten vielfach übertrifft.
Das bunte Publikum, das sich Jahr für Jahr auf dem Salón Internacional del Cómic de Barcelona trifft, lässt es ahnen: Das Genre ist ungeheuer vielfältig. Und es ist international. Japanische Mangas, nordische Comics voller Melancholie, französische Beiläufigkeit à la Tintin und – gelegentlich – amerikanische Superhelden: Sie alle finden in den novelas gráficas auf neue Art zusammen. Außerdem greifen die Zeichner auch die Tradition der Fotografie auf, die der europäischen Malerei und deren einzelne Schulen sowie Techniken der Werbung, des Films, der Nachrichten. Mit Respekt vor der Tradition, aber ohne Angst vor ihr fügen sie die alte Bilderwelten neu zusammen, lassen aus ihnen etwas Neue, oft kaum je Gesehenes entstehen.
In ihrem künstlerischen und intellektuellen Anspruch, behaupten die Fans der novela gráfica, unterscheide sich dies vom Comic. Sie haben recht: Die beiden Genres haben sich über die Jahre deutlich auseinander entwickelt. Zunächst inhaltlich: Während der Comic weiterhin vor allem auf Unterhaltung setzt, widmet die graphic novel sich auch ernsteren Themen, erhebt einen dezidiert künstlerischen Anspruch durch den sie den Comic weit hinter sich lässt. „Das Ziel eines graphic-novel-Autors ist es, in der Art eines Comics zu arbeiten. Das wird aber als zunehmend peinlich empfunden. Darum heben die Autoren ihre Arbeit auf eine anspruchsvollere und bedeutsamere Ebene“, schreibt Eddie Campbell, einer der Pioniere des Genres, in seinem „Graphic Novel Manifesto“.
Cambells These ist schlüssig. Comic und graphic novel unterscheiden sich gründlich. Hier der „Illustrator“, dort der „Zeichner“ – in diesem Gegensatz offenbart sich der Anspruch, den die beiden Genres stellen. Und es erschließt sich dann auch, wo der Unterschied liegt. Niemandem würde es einfallen, „Mouse“, eine der bis heute bekanntesten graphic novels, als Comic zu beschreiben. Art Spiegelmans großartiges Werk über die Konzentrations- und Vernichtungslager im Nationalsozialismus lässt sich schon aus Pietätsgründen nicht als Comic bezeichnen. Zwischen „Mouse“ und „Lucky Luke“ liegen Welten.
Spanische Autoren greifen mit ihrem frischen Zugriff sehr gerne historische Themen, Episoden aus der Geschichte des Landes, auf. Nicht, um die Vergangenheit zu verklären. Sondern um sie in ihren dramatischen, oft auch dunklen Seiten zu erkunden. Die Bildersprache liefert ein zusätzliches Mittel, diese Dramatik in Szene zu setzen, sie in ein zusätzliches Medium, das Bild, zu transportieren, das dem klassischen Medium der Einfühlung, dem Roman, fehlt. In den Augen vieler Leser ist die novela gráfica ein ebenbürtiges Genre der erzählerischen Literatur, kann mit den großen Werken großer Autoren durchaus mithalten. Was im Roman die Sprache, ist in der graphic novel das Bild. Dass sie wie dieser die ernsten Themen nicht scheut, zeigt sich Jahr für Jahr an dem Preis für das beste Werk eines spanischen Autors, den der Salón Jahr für Jahr vergibt.
So ging im Jahr 2014 der Preis für die beste spanische graphic novel an Paco Roca. In seinem Werk „Los surcos del azar“(„Die Furchen des Schicksals“) erzählt er die Geschichte jener Spanier, die während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreichs in den Reihen des französischen Heers gegen die Nazis kämpften. Wie man weiß, ging der Feldzug erfolglos aus. Doch die Teilnehmer triumphierten zumindest ethisch. Freiheit, so kann man diese über 300 Seiten lange graphic novel verstehen, fällt nicht vom Himmel. Sie muss politisch organisiert und notfalls auch erkämpft und verteidigt werden. Und trotzdem ist „Los surcos del azar“ kein didaktisches Werk. Der suggestive Strich des Autors zieht den Leser tief in eine dunkle, politisch höchst dramatische Zeit, die unter Rocas Händen eine ganz eigene Faszination entwickelt.
Und für das Jahr 2015 ist „Las meninas“ nominiert, Santiago Garcías großartiger Band über das gleichnamige Bild des spanischen Malers Diego Velázquez. Sein berühmtes Porträt der Familie des spanischen Königs Felipe IV fasziniert (nicht nur) die Spanier bis heute. Die Familie, porträtiert von dem Maler vor der Leinwand, dessen Bild man nur von hinten sieht: Dieses Spiel der Andeutung, das das Porträt der Königsfamilie zeigt und doch nicht zeigt, gilt in seiner inneren Widersprüchlichkeit als eines der frühesten Werke der kulturellen Moderne. In seinem Band heftet sich Santiago García an die Spuren des berühmten spanischen Künstlers und vor allem seine Weltsicht, die ein solch komplexes Gebilde überhaupt erst möglich werden ließ.
In Spanien hat die Graphic Novel eine lange Tradition. Die von 1904 – 1908 erschienene Zeitschrift (1904-1908) „Monos“ bewirbt ihren Comic „Travesuras de Bebé“, eine Sammlung von Geschichten um ein kleines Kind, als „ersten spanischen graphischen Roman“. Die Serie war zwar erfolgreich, schaffte es aber nicht, mit der Graphic Novel ein neues Genre dauerhaft zu begründen. So dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis es wieder auftauchte: nämlich 1948, in einer regelmäßig erscheinenden Heftreihe mit dem Titel “La novela gráfica“, die ihren Lesern Aufregendes versprach: „Die novela gráfica präsentiert ihren Lesern die besten Romane der Weltliteratur anhand erklärender Zeichnungen. Jede Ausgabe enthält die vollständige Handlung eines Romans. Geboten werden Liebes- und Abenteuerromane, Werke, die von Leidenschaft und Intrige handeln, und zwar für erwachsene Leser.“
Den abenteuerlichen Charakter pflegten die novelas gráficas zunächst weiter. „Dossier negro“ hieß eine Comic-Reihe aus den spätern 60er Jahren, „Vampirella“, „SOS“ und „Star“ hießen einige der Reihen aus dem folgenden Jahrzehnt – allesamt weniger mit künstlerischem Anspruch, sondern vor allem darauf bedacht, die Leser zu unterhalten.
In Fahrt kam die novela gráfica nach dem Tod Francos. Nicht nur die Politik, auch die Kultur öffnete sich. „Totem“, „Blue Jeans“ „Metal Hurlant“ heißen einige der neueren Arbeiten. Schon die Titeln deuten es an: Das Land beginnt sich zu öffnen, die novela gráfica wird Teil der movida, der künstlerischen Erneuerungsbewegung, die das Land nach dem Tod Spaniens erfasst.
Einige Jahre später, 1981, öffnet der Salón Internacional del Cómic de Barcelona seine Pforten, der bis heute wichtigste Treffpunkt für die Branche.
Nach zwei mageren Jahrzehnten gewinnt die novela gráfica in den späten 90er Jahren neuen Schwung. Es entstehen auf Comics und graphic novels spezialisierte Verlage wie etwa De Ponent, Sinsentido, Dolmen und Diábolo Ediciones. Im Jahr 2007 wird der Premio Nacional del Cómic gestiftet. Er beschert dem neuen Genre noch einmal zusätzlichen Schwung.
Wo der hinführt, zeigt etwa Carlos Hernández, der Autor und Zeichner von “La huella de Lorca“, dem vielfach gepriesenen Werk über Spaniens vielleicht bekanntesten Dichter. Hernández hat sich von Fotos aus dem Spanien der 20er und 30er Jahre inspirieren lassen. Frappierend, wie markant Hernández García Lorca zeichnet: das dichte, pechschwarze Haar, die ausgeprägten Augenbrauen, der schmale Kopf – man erkennt ihn sofort. Doch der Titel deutet es an: In dem Werk geht es nicht nur um García Lorca allein, sondern um alle, die in jener Zeit zu leiden hatten. In dem Buch tritt eine ganze Reihe anderer Personen auf, die García Lorca kennen oder über ihn sprechen. So entfaltet sich in seinem Buch eine ganz eigene, düstere Atmosphäre, der Schrecken jener Jahre, die in Bürgerkrieg und Diktatur mündeten.
Doch nicht nur mit der Vergangenheit, auch mit der Gegenwart nähern sich die spanischen Künstler auseinander. Javier de Isusi porträtiert in „He visto las ballenas“ einen in Frankreich einsitzenden ETA-Terroristen, der, nach Jahren in Gefangenschaft, ein nachdenkliches Resümee seines Lebens zieht.
Miguel Brieva hat mit „Lo que me está pasando“ ein Buch über die spanische Krise geschrieben, die darbende Wirtschaft und deren Auswirkungen auf die Menschen. Mutlosigkeit, aber auch der Entschluss, die Dinge ändern zu wählen: der Band ist das Porträt eines der zahllosen „indignados“, „Empörten“, die derzeit mehr und mehr in die spanische Politik drängen.
Antonio Hitos verfasst mit „Inercia“ das Porträt einer Generation, die sich um ihre Chancen betrogen sieht – und darüber, wie der Titel es andeutet, in Bewegungslosigkeit, Starre, Depression verfällt. Sillón Orejero porträtiert in „Historias del barrio“ ein Großstadtviertel im Niedergang. Raubüberfälle, Drogen, Schlägereien, die Auflösung familiärer Bande: Die novela gráfica hat eine Vorliebe für dunkle Themen. Und zeigt gerade dadurch, dass es keine Wirklichkeit gibt, die sich nicht in Kunst verwandeln lässt.
Kerstern Knipp
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