Lamia (Lamia)
Autor: Rayco Pulido
Verlag: Editorial Astiberri, Bilbao 2016, 88 Seiten.
Gutachter: Jan Surmann
Die graphic Novel „Lamia“ des spanischen Autors Rayco Pulido erzählt in beeindruckenden schwarz-weiß Bildern eine vielschichtige Geschichte, die um die 32-jährige Hauptdarstellerin Laia in Barcelona kreist und sich in den Nachkriegswirren des spanischen Bürgerkrieges zu einem umfassenden Sozialdrama entwickelt. Damit ist die vorliegende preisgekrönte graphic Novel auch gleichzeitig ein kritisches Gesellschaftsbild der frühen Franco-Diktatur. Subtil und von herausragender künstlerischer Fähigkeit wird in einer spannenden Geschichte eine Kritik der Gewalt und Gefühlskälte der spanischen Nachkriegsgesellschaft gezeichnet. Der Autor gibt dabei dem geneigten Leser die Möglichkeit, sich auf einen der verschiedenen Stränge der Geschichte zu konzentrieren, so dass durchaus unterschiedliche Lesarten von ein und demselben Buch hier möglich scheinen.
Rayco Pulido, der Autor dieser graphic Novel, wurde 1978 in Telde, der zweitgrößten Stadt Gran Canarias, geboren. Seine künstlerische Ausbildung erfuhr er – wie so viele Kulturschaffende in Spanien – in der katalanischen Metropole Barcelona. Neben seiner Tätigkeit als Dozent arbeitet er regelmäßig an eigenen Comic-Produktionen. Im Jahr 2004, nachdem er bereits an mehreren künstlerischen Wettbewerben und Ausstellungen teilgenommen hat, ging er einen Schritt weiter in seiner kreativen Entwicklung und fing an, sich an größeren Comic-Erzählungen zu versuchen. Anfangs illustrierte er lediglich Geschichten anderer Autoren, fing aber recht schnell an, seine eigenen Erzählungen zu entwerfen und zu schreiben und dann auch zu zeichnen. Das Werk „Lamia“ ist die fünfte Arbeit von Rayco Pulido. Es hat nicht allein 2017 den mit Euro 20.000,00 dotierten nationalen Comic-Preis gewonnen (Premio Nacional del Cómic), sondern ist auch auf ein sehr positives und breites Publikumsecho gestoßen, so dass das Buch neben einer digitalen Version bereits in dritter Printauflage in Spanien erschienen ist. Das Buch ist größtenteils in Frankreich geschrieben worden, da Rayco Pulido ein Residenzstipendium für die Ausarbeitung von der Acción Cultural Española erhalten hat. Mit dem Comic-Verlag Astiberri, der 2001 im Baskenland gegründet wurde, ist es Pulido gelungen, einen sehr anspruchsvollen Verlag für seine Publikation gewinnen zu können.
Mit 88 Seiten ist die Geschichte „Lamia“ recht kurz, aber von einem elektrisierenden Spannungsbogen durchzogen, der die Lektüre für den Leser äußerst kurzweilig werden lässt. Das Format der spanischen Edition von 24 x 31,5 cm macht das Buch sehr präsent. Graphisch sticht nicht allein die durchgängige Zeichnung in schwarz-weiß ins Auge, sondern auch die geometrischen Formen und die der damaligen Zeit entsprechende Ästhetik. Damit hat das Werk zahlreiche künstlerische Anleihen an den Roman noir. So setzt der Autor von Anfang an den Ton und zieht den Leser sehr schnell in seinen Bann. Die Kapitel, sehr stilgebend als „Akte“ bezeichnet, sind kurz, knapp und voller Informationen gehalten, die einen Sog entfachen, dem sich der Leser nur schwer wieder entziehen kann. Erst langsam, aber dann immer intensiver, entfaltet sich die Vielschichtigkeit der losen Erzählstränge.
Die Hauptdarstellerin der graphic Novel „Lamia“ ist die noch junge Laia. Auf den ersten Blick erscheint ihr Hauptproblem die fortgeschrittene Schwangerschaft, sowie die Tatsache, dass ihr Ehemann – ursprünglich aus Leipzig stammend – sich außerhalb Barcelonas aufhält, um vermeintlich eine komplizierte Familienerbgeschichte zu regeln. Doch schnell wird klar, dass in dem Buch die Dinge sich nicht so verhalten, wie sie auf den ersten Blick erscheinen: Laia ist bei einem großen Radiosender angestellt und wirkt dort beim Radioprogramm von Doktor Bosch mit, das die mehrheitlich weiblichen Zuhörerinnen in Lebens- und Beziehungsfragen berät. „El Consultorio“ ist ein mehrfach preisgekröntes Radioprogramm. Doch unterscheiden sich die offiziellen Antworten, die der offiziellen und klerikalen Zensur durchlaufen, von den Ratschlägen, die Laia den Zuhörerinnen eigentlich geben möchte. Während die Ratschläge im Radio immer den Status quo stützen, vorgegeben vom Chef und Pater, gibt Laia aus innerer Überzeugung Ratschläge, um mit dem Zustand zu brechen: Sie empfiehlt, den Peiniger zu töten, behält diese Briefe dann aber für sich in ihrem Apartment. Hier offenbart sich, dass „Lamia“ auch eine tiefgründige Problematisierung von ehelicher Gewalt ist, eine Thematik, die nicht allein auf das Barcelona der 1940er Jahre beschränkt ist. Laia offenbart sich immer mehr als Rächerin, die auf brutale Weise den gewalttätigen Ehemännern anderer Frauen entgegentritt und sie ermordet. Laia ist somit nicht allein die Figur, die vermeintlich auf ihren Ehemann wartet und einen Detektiv beauftragt, um diesen zu finden. Sie ist auch die Frau, die unfähig ist, selber ein Kind zu gebären (woran die Beziehung zu ihrem Ehemann zerbrach) und die Rächerin an den misshandelten Ehefrauen und Kindern. Somit erschließt sich an diesem Punkt auch der Titel der graphic Novel: Lamia ist eine mythische Figur, die anderen Müttern ihre Kinder entwendet, da sie selber keine bekommen kann. Allerdings tut Laia dies am Schluss des Buches nicht allein aus egoistischer Absicht. Denn sie rettet das Kind damit auch aus einem gewalttätigen Elternhaus.
Somit ist allein schon wegen der impliziten Spannung und Vielschichtigkeit der Erzählung das Buch „Lamia“ für eine Übersetzung ohne Zweifel zu empfehlen. Speziell die thematische Breite der Erzählung und ihre über geographische und kulturelle Grenzen hinausgehende Thematisierung von sozialen Missständen machen das Werk von Rayco Pulido auch im deutschsprachigen Raum zu einer erfolgversprechenden Publikation, die dem Leser einen interessanten Aspekt der spanischen Comic-Szene näher bringt. Dabei wäre zu empfehlen, dass die Ausgabe auch im deutschen Raum so qualitativ wertvoll und ansprechend gestaltet sein sollte, wie dies dem Verlagshaus Astiberri gelungen ist.
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