Insurrección (Aufstand)
Autor: José Ovejero
Verlag: Galaxia Gutenberg, Barcelona 2019, 288 Seiten
Gutachterin: Sabine Giersberg
José Ovejero (*Madrid 1958) gehört zweifellos zu den namhaften Autoren der aktuellen spanischen Literaturszene. 1 Nachdem er einige Zeit als Konferenzdolmetscher in Bonn und Brüssel gearbeitet hatte, widmet er sich nun, zurück in seiner Heimat, seit vielen Jahren dem Schreiben. Er hat zahlreiche Werke veröffentlicht, darunter auch Gedichte. 2013 erhielt er für La invención del amor (dt. Die Erfindung der Liebe) über die Liebe eines vierzigjährigen Mannes zu einer Frau, die nur in seiner Fantasie existiert, den bedeutenden Premio Alfaguara de Novela. Auch im deutschsprachigen Raum ist er kein Unbekannter. Bereits 1999 erschien im Scherz Verlag unter dem Titel Erzähl mir noch einmal von Havanna der Roman Anoranza del héroe aus dem Jahr 1997 (2015 neu aufgelegt als Taschenbuch bei Fischer).
Ovejeros Weltsicht ist pessimistisch, seine Texte dicht und meist existenziellen Themen gewidmet. So auch der vorliegende Roman Insurrección um die siebzehnjährige rebellische Ana, einer zornigen jungen Frau, die mit der Welt hadert, in der sie lebt. Sie ist eine Einzelgängerin, fühlt sich nirgends zugehörig, wird von ihren Klassenkameraden gehänselt, und hat ein reiches Innenleben. Am Beginn des Romans ist sie abgehauen und in eine WG der Hausbesetzerszene mit dem sprechenden Namen „El agujero“ (das Loch) gezogen. Ihren Vater Aitor, bei dem Ana mit ihrem älteren Bruder Luis seit der Scheidung von Isabel lebte, wirft das völlig aus der Bahn. Er beginnt über sein Leben, seine Kindheit, zu reflektieren und wird plötzlich damit konfrontiert, dass er auf ganzer Linie gescheitert ist.
Da er zunächst nicht weiß, wo Ana sich aufhält, engagiert er auf Anraten von Isabel einen Detektiv, einen hinterhältigen Kerl, der, wie sich später herausstellt, alle Menschen ausnutzt und Aitor mit seinem Wissen erpresst. Denn Ana ist Teil einer anarchistischen Gruppe, die im Kampf gegen die verkommene Gesellschaft, astronomische Mieten und Wegfall von Wohnraum durch Vermietung an Touristen Attentate verübt. Auch ihr Bruder Luis hatte Kontakt zu der Gruppe, entscheidet sich aber letztlich für ein Studium in den USA.
Ana war schon als Dreizehnjährige von einem Schulausflug ausgebüxt und hatte am Strand den seltsamen, aber charismatischen Alfon kennengelernt, den Anführer der Gruppe. Die beiden verbindet eine Art Liebesbeziehung. Alfon hat von heute auf morgen seine Dozententätigkeit an der Uni und seine Wohnung mit sämtlichem Hab und Gut aufgegeben, um eine alternative Lebensform auszuprobieren. Mit ihnen in der WG leben der heroinabhängige Yannick mit seinem alten Hund Nicolás und seine bipolare Freundin Elena, Hans, der Deutsche, und Paula und Marta, genannt „die Nonnen“. Als Ana und Alfon sich radikalisieren und Gewalt ins Spiel kommt, springt ein Großteil der Mannschaft ab.
Der Roman besteht aus 36 Kapiteln, in denen die Ereignisse über den Gedankenstrom der Figuren geschildert werden. Als Leser taucht man ein in den Kopf der Figuren (vornehmlich Aitors und Anas), und die stark rhythmisierte, stellenweise sehr poetische Sprache mit sehr starken Bildern erzeugt einen besonderen Flow. Die Erzählstimme wechselt vom „Ich“ zum „Du“, wie in einer Art Zwiesprache, oder zum „Ihr“ oder zum neutralen „Er/Sie“. Einen introspektiven Kontrapunkt bilden die eingeflochtenen Gedichte Anas. Dialoge werden nicht eigens gekennzeichnet, und es gibt Passagen, in denen der Fluss nicht durch Punkte unterbrochen wird.
Über die oszillierenden Stimmen entstehen fließende komplexe psychologische Porträts der einzelnen Figuren. Mal rückt der Leser nah an die Figur heran, dann wieder wird er auf Distanz gebracht. Brüche und Spannungen werden sichtbar gemacht, sowohl zwischen den Eltern, die sich weit voneinander entfernt haben, als auch zwischen den Generationen und ihren Lebensmodellen (Kapitalismus versus Revolution). Es geht darum, die Standpunkte in ihrer Vielschichtigkeit (z.B. auch bei der Frage Gewalt ja oder nein) deutlich zu machen, die Figuren in ihrer Orientierungslosigkeit und ihrer Fragilität zu zeigen.
Ovejero spart nicht mit Kritik am System, am alles zerfressenden Kapitalismus, am Wertverlust der Gesellschaft, an einer Bildung, die sich nur am Markt orientiert. Deutlich wird dies auch an der Arbeitssituation Aitors, der eigentlich Investigativ-Journalist werden wollte, dann aber als Sprecher beim Radio-Sender gelandet und in eine spießige Wohnung am Stadtrand gezogen ist, weil seine Ex-Frau das so wollte. Als seine Kollegin von heute auf morgen entlassen wird, weil sie schwanger ist, bietet man ihm die Redaktionsleitung an, nur um – man ahnt es bereits – auch ihn bei nächster Gelegenheit zu schassen. Die besetzte Wohnung ist für Ovejero, wie er einmal im Interview gesagt hat, eine Zelle des Widerstands innerhalb des Systems. Sein Roman hat eindeutig eine politische Botschaft. Doch am Ende steht nicht das Scheitern: Nach dem Schiffbruch brechen Aitor und Ana jeder für sich zu neuen Ufern auf. Der Autor spricht deshalb zurecht von einem „Roman der Überlebenden“.
Ovejero zeichnet ein bitteres Porträt der Gegenwart, in der alles dem Profit untergeordnet scheint und zwischenmenschliche Beziehungen durch unüberwindbare Brüche und Spannungen charakterisiert sind. Der Roman zeigt auf, klagt an, ganz im Sinne der engagierten Literatur und reiht sich damit ein in die in Spanien in den letzten zehn Jahren präsente sogenannte „literatura de la crisis“. Aber er tut es auf eine sehr poetische, originelle Weise. Die Introspektive, der tiefe Einblick in die Psyche der Figuren über oszillierende Stimmen und eine ebenso oszillierende Sprache, bildet einen Kontrapunkt zu der düsteren Bestandsaufnahme. Die poetische Komponente entfaltet beim Lesen einen starken Sog, sodass am Ende der Leser mit der Protagonistin, der man zunächst einen Suizid zutraut, vom Meeresgrund ins Licht aufsteigt. Es ist kein Buch, das einen am Ende ver- und zerstört zurücklässt, und vor allem keins, das sich ideologischer Klischees bedient oder platte Lösungen anbietet.
Fazit: Ein wunderbares Buch – trotz der düsteren Thematik - und ein Autor, den es für den deutschen Markt unbedingt (wieder) zu entdecken gilt. Schwierigkeiten für die Übersetzung sehe ich keine, da man sich, hat man den Ton einmal gefunden, von den starken Stimmen tragen lassen kann.
1 Zusammen mit Edurne Portela hat er 2017 einen sehenswerten Dokumentarfilm mit Gesprächen mit spanischen Schriftstellern wie Rosa Montero, Juan Gabriel Vásquez, Cristina Fernández Cubas u.a. gemacht, in dem es um die Frage geht „¿por qué escribimos todavía?“
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