Asja - Amor de Dirección Única (Asja – Liebe in nur eine Richtung)
Autorin: Roser Amills
Verlag: Editorial Comanegra, Barcelona 2017, 303 Seiten
Gutachterin: Sabine Giersberg
In ihrem äußerst gelungenen Roman folgt die mallorquinische Autorin Roser Amills (*1974) einem Diktum Ricardo Piglias und erzählt die hierzulande nahezu unbekannte Geschichte der lettischen Schauspielerin, Regisseurin und Theatermacherin Asja Lacis (1891 – 1979), die eine wichtige Rolle im Leben des Philosophen Walter Benjamin spielte, die von Freunden, Kollegen und Biografen Benjamins ausgeblendet oder heruntergespielt wird. Asja (eigentlich Anna Ernestowna Liepina) und Benjamin lernen sich 1924 auf Capri kennen, wo er, der ewig Reisende, für ein paar Monate weilt. Er ist sofort Feuer und Flamme für die geheimnisvolle Schönheit, und eine amour fou beginnt, die aufgrund ihrer Persönlichkeiten von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Benjamin verzehrt sich nach der Urgewalt, die sie ausstrahlt, umso mehr, da sie ihn auf Distanz hält, mehrfach geradezu wegstößt. Die glühende Bolschewistin will um jeden Preis ihre Freiheit bewahren, da passt die Liebe zu einem einzigen Mann nicht ins Programm. Er, der zwischen Phasen besessener Schaffenskraft und tiefster Depression und Selbstzweifeln hin und her pendelt, überhöht sie, nennt sie seinen „Menschen des Siebten Tages“, an dem Gott alles zur Vollendung brachte und ruhte.
Sie treffen sich immer wieder: in Neapel, Paris, Moskau, Berlin. In Neapel schreiben sie gemeinsam einen Aufsatz, in dem der Keim für das berühmte Passagenwerk gelegt wird. Er widmet ihr sein Werk Einbahnstraße 1 (auf das auch der Titel anspielt), eine Sammlung unterschiedlichster kurzer Texte, die 1928 als Broschüre mit einem markanten Einband des Fotografen Sascha Stone erschien. Später macht er ihr Projekt dem deutschen Publikum durch den Beitrag „Programm des proletarischen Kindertheaters“ bekannt.
Benjamin, der schon lange von seiner Frau Dora und seinem Sohn Stefan getrennt lebt, verlangt die Scheidung, um Asja heiraten zu können. Doch immer wieder kommt es zwischen den beiden zu Streitigkeiten, die in Trennung und Funkstille enden. Als Benjamin ihr, von Sehnsucht geplagt, nach Moskau nachreist, findet er eine gebrochene Asja vor, die in einem Sanatorium nach Genesung sucht. Stets an ihrer Seite ihr Lebensgefährte, der Regisseur und Theaterkritiker Bernhard Reich, der sie immer wieder auffängt und – so die Deutung aus der Retrospektive - eine Art Schutzwall gegen die Liebe zu Benjamin ist, die sie sich nicht eingestehen will. Asja kreist um sich selbst, ist unfähig Reich oder ihrer Tochter Daga Gefühle entgegenzubringen.
Wegen angeblich regimefeindlicher Tätigkeit – wegen ihrer intensiven Kontakte zu deutschen Intellektuellen verdächtigt man sie sogar als Spionin tätig zu sein – wird Asja 1938 vom NKWD verhaftet und muss die nächsten zehn Jahre in Arbeitslagern in Kasachstan verbringen.
Der Roman setzt ein, als sie 1955 nach den schrecklichen Erfahrungen im Gulag in Berlin eintrifft und bei Bertold Brecht und seiner Frau Helene Weigel nach Benjamins Verbleib fragt. Die Nachricht über seinen fünfzehn Jahre zurückliegenden Selbstmord erschüttert sie tief und sie tritt die Rückreise nach Moskau an. Auf der über viertausend Kilometer langen Zugfahrt lässt sie die gemeinsamen Erlebnisse, Gespräche, Gedanken Revue passieren, und in der Gewissheit des Verlusts wird sie sich ihrer wahren Gefühle für Benjamin bewusst. In einem Heft hält sie fest, was sie innerlich bewegt. Die Erzählperspektive wechselt zwischen der sich kritisch hinterfragenden und kommentierenden Stimme Asjas und Rückblenden in die Vergangenheit aus auktorialer Perspektive. Die Ereignisse werden chronologisch erzählt. Die beiden letzten Kapitel sind dem sich über Benjamin zusammenbrauenden Unheil angesichts existenzieller Not und Nazi-Terror und den letzten Jahren Asjas gewidmet, in denen sie sich immer mehr zurückzog.
Asja sucht nach ihrer Rückkehr Kontakt zu ehemaligen Wegbegleitern Benjamins: zu dem Religionshistoriker Gershom Scholem und dem Schriftsteller und Kunstkritiker Jean Selz, um etwas über die letzten Lebensjahre ihres Geliebten herauszufinden, dem sie auf diese Weise wieder nahezukommen versucht. Sie erhält einen Brief von Bertold Brecht, mit dem sie eine intensive Freundschaft verbindet. Brecht gesteht ihr, wie sehr er es bedauert, in seinem idealisierenden Blick auf den Kommunismus die aufkommende Barbarei in der Sowjetunion nicht erkannt zu haben, die Benjamin, der Visionär, längst vorausgesehen hatte. Sie, die sich dem Regime gegenüber nach ihrer Entlassung aus dem Gulag zum Stillschweigen verpflichtet hatte, offenbart ihm ihrerseits in einem Antwortbrief Erinnerungen an Benjamin, aber auch an die Zeit im Gulag. Brecht stirbt am 14. August 1956, der Brief erreicht ihn nicht mehr und bleibt verschollen. Asja lebt fortan in Angst vor Repressalien. 1979 stirbt sie in Riga. Und so endet die Geschichte einer Liebe, die von beiden jeweils nur in einer „Einbahnstraße“ gelebt werden konnte.
Die Autorin Roser Amills hat die gut recherchierten realen Geschehnisse auf wunderbare Weise in eine fiktive Geschichte gegossen. Dabei kam ihr sicherlich ihre journalistische Tätigkeit zugute. Die Figuren sind lebendig, erscheinen mit all ihren faszinierenden Eigenschaften und Widersprüchen, in Momenten höchster Ektase und an den Tiefpunkten ihres Lebens. Die Beziehungsgeflechte werden nachvollziehbar psychologisch aufgeschlüsselt und dabei wird der historische Background fast wie nebenbei mit ausgeleuchtet, Themen wie ideologische Verblendung, Totalitarismus, Ausgrenzung etc. aufgegriffen.
Der Stil ist flüssig und mitreißend, der Roman insgesamt gut strukturiert. Ein informatives Nachwort und eine Chronologie der Ereignisse sind hilfreich für die Orientierung.
Eva Weissweiler hat 2020 mit ihrer Doppelbiografie Das Echo Deiner Frage die dramatische Beziehung zu einer anderen großen Frau an Benjamins Seite in den Fokus gerückt: die zu der österreichischen Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin Dora Sophie Kellner, mit der Benjamin von 1917 bis 1930 verheiratet war. Amills hat einige Jahre zuvor auf gelungene Weise eine andere bedeutende Frau aus dem Dunkel der Geschichte geholt: Asja Lacis. Es wird Zeit, dass diese Geschichte, die sich problemlos ins Deutsche übertragen lassen dürfte, auch einem breiteren deutschen Publikum zugänglich gemacht wird.
Fazit: eine klare Empfehlung und eine Einladung, sich der bereichernden und inspirierenden Lektüre hinzugeben (und sich bei der Gelegenheit vielleicht noch einmal mit dem Werk Walter Benjamins zu beschäftigen, vor allem mit den Texten der Einbahnstraße, in denen sich viele Motive des Gesamtwerks auf vielfältige Weise spiegeln).
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