Casas y tumbas (Häuser und Gräber)
Autor: Bernardo Atxaga
Verlag: Alfaguara, Madrid 2020, 424 Seiten
Gutachterin: Sabine Giersberg
Bernardo Atxaga - eigentlich José Irazu Garmendia - (*1951 Asteasu) ist wohl der bekannteste baskische Autor, und er wurde in viele Sprachen übersetzt. Er ist Mitglied der Königlichen Akademie der Baskischen Sprache und hat 2019 den Premio Nacional de las Letras Españolas für sein Lebenswerk erhalten. Er hat ein besonderes Verhältnis zu Deutschland und zur deutsch-österreichischen Literatur, was sich auch in Form von Anspielungen in seinem Werk widerspiegelt. Der Autor hat mit Obaba, der Kleinstadt in den baskischen Bergen, sein eigenes literarisches Universum geschaffen. Auf Deutsch liegen bislang vor: Obabakoak oder das Gänsespiel, Ein Mann allein (Ü: Giovanna Waeckerlin Induni, Unionsverlag) und Der Sohn des Akkordeonspielers (Ü: Matthias Strobel, Insel-Verlag). Die Romane wurden von seiner Frau Asun Garikano unter Mitwirkung des Autors ins Spanische übertragen.
Der Autor, der auch in den Genres Dichtung und Essay zuhause ist, hat betont, dass es sich bei Casas y tumbas um seinen letzten Roman handelt, weil er sich anderen Formen des Schreibens widmen will. Wie schon bei Obabakoak (eine Mischung aus Roman und Kurzgeschichten) handelt es sich nicht um einen Roman im klassischen Sinne, sondern um sechs Fragmente, die gemeinsam eine Figur bilden. In einem alphabetisch konzipierten Epilog legt der Autor seine Gedanken zur Literatur und dem Schreiben dar. Wir erfahren, dass einzelne Episoden realen Erfahrungen entsprechen.
Ungeachtet der fragmentarischen Struktur schreibt sich der Roman klar in eine realistische Erzähltradition mit vielen Dialogen und (manchmal allzu) minutiösen Beschreibungen von Personen, Landschaften und Umständen ein. Ähnlich wie Marta Sanz will auch Atxaga, wie er sich in einem Interview äußert, eine Verlangsamung des Lektüreprozesses erreichen, eine Art „Versunkenheit“.
Thematisch geht es um Familiengeschichten, traumatische Erfahrungen, geistige Labyrinthe, politische Kämpfe, einsame Landschaften. Bestimmte Motive bilden eine Konstante in Atxagas Werk, wie Kampf, der (gewaltsame) Tod, Spiegelwelten oder der Doppelgänger, und geradezu obsessiv begegnet einem das Wildschwein.
Stand bei Obabakoak die mythische Dimension im Vordergrund, so ist es hier die realistische. Ugarte, wo die erste Geschichte von dem kleinen Elías spielt, der seit einem Aufenthalt in einem Priesterinternat nicht mehr spricht, ist ein realer Ort auf der baskischen Landkarte, auf den auch in den folgenden Episoden immer wieder Bezug genommen wird. Leitmotivisch tauchen in der Episode aus dem Jahr 1972 die Olympischen Spiele in München und das französische Lied „Il était un petit navire“ auf. Elías schnitzt begeistert Holzschiffe und bricht mit seinen Freunden zu Abenteuern am Kanal auf, wo er durch die Zwillinge und die Rettung eines verletzten Wildschweins zur Sprache zurückfindet. Leider ist der Anfang etwas überladen und weitschweifig. So erfährt man erst nach vielen Seiten, dass Elías in der Schule erste homosexuelle Erfahrungen mit einem Mitschüler gemacht hat und später von dem Pedell bedrängt wird, der sich sein Schweigen mit Sex erkaufen will. In ähnlicher Weise bewegt sich im nächsten Fragment „Vier Freunde“ die 1970 in einer Kaserne spielende Handlung ebenfalls in retardierenden Kreisbewegungen auf das Zentrum der Handlung zu. Geschildert wird das Leben in der Kaserne und der Versuch, eine Elster namens Paca für die Jagd auszubilden. Der Diktator Franco kommt nur schemenhaft, aber als düstere Gewalt, in den Jagdgebieten von El Pardo vor. Es ist insgesamt ein sehr Gewalt geladenes Kapitel, bei dem auch der Sex zu einem Akt der Brutalität wird. Auch die Elster wird von dem eifersüchtigen Ehemann der real existierenden Paca erschlagen.
Das Kapitel „Antoine“ führt uns in die Zeit des linken Terrorismus der 80er Jahre. Der Ingenieur Antoine muss einen Sabotageakt bei der Grube miterleben, in der er arbeitet. Zugleich wird sein Seelenhund Louise, ein Dobermann, von Eliseo erschossen. Antoine sinnt auf Rache, versucht in einem perfiden Plan eine Psychoanalytikerin hinters Licht zu führen und zur Komplizin zu machen, indem er angibt, die Stimme des verbliebenen trauernden Hundes Troy zu hören, der ihn zur Tötung anstiftet. Sein Vorbild ist der real existierende Serienmörder David Berkowitz. Für mich ist dieses Psychogramm das gelungenste Kapitel des Romans. Zugleich leitet es in der nächsten Episode „Luis‘ Unfall“ zu einer temporeicheren, mehr von Bild- und Tonsequenzen geprägten Erzählweise über. Durch das Bewusstsein des im Koma liegenden Patienten schießen Liedfetzen, Bilder und Filmszenen.
Im Verlauf des Romans reisen wir an verschiedene Orte, darunter Paris, Madrid oder Amerika. Der Zeitraum reicht von 1970 (die letzten Jahre der Franco-Diktatur) bis 2017. Eine zentrales Motiv der Geschichten sind geschlossene Räume, die die Figuren nicht nach Belieben verlassen können, wie Gefängnis, Krankenhaus, Internat etc. Auch der Titel verweist auf solche: Das eigene Heim als Zuflucht oder als Ort, an dem man lebendig begraben ist, und das Grab als letzte Ruhestätte.
In Atxagas Texten steht nicht die Handlung als treibendes Element im Vordergrund. Es geht ihm darum, die Innenwelten der Figuren zu spiegeln. Dies geschieht über Dialoge, aber auch über Traumsequenzen und Gedankenströme, wie etwa bei dem schrillen Kapitel 5 „Daisy im Fernsehen“, wo in einer fiktiven Doku die adipöse junge Frau mittels eines Personal Trainers ordentlich abspeckt, oder in Kapitel 6 „Orchideen“, wo sich bei einem kleinen Mädchen, zunächst unbemerkt, eine Bauchfellentzündung entwickelt – mit dramatischen Folgen. Hier läuft der Autor stilistisch zu großartiger Form auf.
Bei aller Unterschiedlichkeit sind die Geschichten doch über Leitmotive (Gewalt, Tod, Freundschaft etc.) und die wiederkehrenden Figuren und den Ort Ugarte miteinander verwoben. An manchen Stellen ist die Erzählerstimme wie ein poetisches Raunen, bei dem vieles nebulös bleibt. Wer sich darauf einlassen kann, wird das Buch sicher mit Genuss lesen.
Fazit: Auch wenn der Einstieg zunächst etwas beschwerlich ist und manche Passagen etwas weitschweifig sind, halte ich das Buch insgesamt nicht zuletzt auch wegen seines experimentellen Charakters für eine Entdeckung, weil sich erst am Ende der Geschichte(n) – vorzüglich ergänzt durch die Gedanken und Anmerkungen im Epilog – der sorgsam gewebte Teppich in seiner gesamten Dichte an Motiven und Anspielungen präsentiert. Der Roman ist eine Einladung, sich noch einmal ausgiebig mit dem Gesamtwerk des interessanten Autors auseinanderzusetzen. Besondere Schwierigkeiten für die Übersetzung sehe ich keine.
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