Gutachterin: Antonia Stock
„El boxeador polaco“, „Der polnische Boxer“, das sind sechs Erzählungen auf 104 Seiten, die sich zusammenfügen zu so etwas wie einem Roman oder etwas ganz Neuem?
Der Erzähler dieser Kurzgeschichten, Eduardo Halfon bzw. sein literarisches Alter Ego, führt uns in der ersten Geschichte mit dem Titel „Lejano“/“Weit weg“ in die Universitätswelt des Literaturunterrichts. Wir lernen mit Halfons Studenten, dass eine sichtbare Erzählung stets eine weitere versteckte Erzählung enthält.
Schlaglichtartig gewährt er uns Lesern Einblick in die unterschiedlichsten Bereiche eines Professoren-Schriftsteller-Lebens. Der Besuch auf dem Land bei einem ehemaligen Schüler, den er für einen vielversprechenden Dichter hält in der ersten Erzählung, wird gefolgt von der sexuellen Anziehung, die eine israelische Backpackerin auf ihn hat, deren Freundins Wurzeln just in die gleiche polnische Stadt führen wie Halfons Familiengeschichte. Hier taucht auch der Großvater auf, der die Hauptperson in der Titel gebenden fünften Erzählung ist. In „Der polnische Boxer“ erzählt der Großvater seinem Neffen von seiner Zeit in den Nazi-Konzentrationslagern und seine Rettung aus Auschwitz.
Die abschließende Erzählung „Discurso de Póvoa“/“Diskurs von Póvoa“ passt wieder in die Kategorie Metaliteratur, in der Kritiker schon Halfons Roman „El ángel literario“ (Anagrama 2004, Finalist des Herralde de Novela-Preises 2003) verortet hatten. Halfon bereitet eine Rede für eine Literaturkonferenz vor und grübelt über das Thema: Die Literatur reißt an der Realität. Was aber ist die Realität? Diese Antwort bleibt offen, genau wie die Wahrheit über die Rettung des Großvaters, denn auf den letzten Seiten erfahren wir, dass er kurze Zeit nach dem Gespräch mit seinem Enkel einem Journalisten eine ganz andere Version erzählt hat.
Halfons Art zu schreiben, knapp, vielschichtig, zum Nachdenken anregend führt dazu, dass man „El boxeador polaco“ auf der letzten Seite angekommen, am liebsten gleich wieder von vorne beginnen möchte. Nicht nur, weil Halfon seinen Studenten in der Erzählung nahelegt, jede Erzählung zweimal zu lesen, bevor man sich ein Urteil erlaubt, sondern auch bzw. und weil einen einfach das Gefühl nicht loslässt, dass es noch so viel zu entdecken, zu erlesen gibt. Denn – wie der aufmerksame Student anmerkt – ist eine Erzählung eben immer auch noch „etwas mehr, etwas, was wir nicht sehen, aber trotzdem da ist, zwischen den Zeilen.“
„El boxeador polaco“ ist keine leichte Unterhaltungslektüre, obwohl man den Unterhaltungswert nicht in Abrede stellen kann, lässt man sich auf Halfons Experiment ein. Wir haben es hier mit einem Zwitter aus selbstständigen Erzählungen und sich ergänzenden Romankapiteln zu tun. Halfon selbst sagt in einem Interview, die Texte haben als Erzählungen begonnen und sind dann zu einem Roman zusammengewachsen. Diese Form passt vielleicht aus kommerzieller Sicht nicht in jedes Verlagsprogramm. Ich bin mir aber sicher, dass es – vielleicht sogar gerade deswegen – deutsche Verleger gibt, die diesem literarisch sehr wertvollen Buch eine Chance geben.
Zu bedenken ist natürlich, dass besonders ein so literarischer Text, bei dem jeder Satz geschliffen scheint, ohne dass es jedoch überstilisiert wirkt, eine ganz besonders sensible Übersetzung erfordert. Doch auch hier sehe ich bei denen aus dem lateinamerikanischen Spanisch übertragenden Übersetzern keine Probleme. Sie oder er müsste allerdings auch mit dem guatemaltekischen Vokabular vertraut sein.
Ich möchte eine Übersetzung ins Deutsche sehr empfehlen, denn ich glaube, Eduardo Halfon ist eine wichtige – für die deutschen Leser bisher unbekannte – literarische Stimme aus Mittelamerika. Gerade aus Guatemala findet sich nicht viel übersetzte Literatur auf dem deutschen Markt, ein Autor wie Halfon – jung, untypisch, gebildet – sollte hier besonders willkommen sein.
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