El hijo judío (Der jüdische Sohn)
Autor: Daniel Guebel
Verlag: Penguin Random House, Buenos Aires 2018, 175 S.
Gutachter: Carsten Regling
Mit El hijo judío (Der jüdische Sohn) ist dem argentinischen Autor Daniel Guebel ein bewegendes, mutiges und erhellendes (autobiografisches) Buch über eine schwierige Vater/Sohn-Beziehung, eine von Angst und körperlicher Bestrafung geprägte Kindheit und die Entdeckung der Literatur und des Schreibens als Flucht und Rettung gelungen. Zugleich ist das schmale Buch eine Reflexion über Kafkas Vaterbeziehung und dessen berühmtes Werk Brief an den Vater.
Daniel Guebel, der 1956 in Buenos Aires geboren wurde und dort lebt, ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Bisher wurde keines seiner Werke ins Deutsche übersetzt.
Der Ich-Erzähler in El hijo judío heißt wie der Autor Daniel, und obwohl Erzähler und Autor nicht gleichgesetzt werden dürfen (im Buch selbst heißt es, dass jede Erinnerung immer auch eine Erzählung, also Fiktion ist), wird deutlich, dass es sich bei dem Text um autobiografische Literatur handelt. Daniel verbringt seine Kindheit in den 1950er und 60er Jahren in San Martín, einem Vorort von Buenos Aires. Seine Familie ist jüdisch, und wenngleich der jüdische Glauben keine allzu große Rolle für die Familie spielt, ist ihr Leben doch von vielen jüdischen Traditionen und Vorstellungen geprägt. Dies bildet aber eher den Hintergrund für das Erzählte, die schmerzvolle und schonungslose Auseinandersetzung mit dem strengen, wenn nicht despotischen Vater. Daniel hat von Anfang an das Gefühl, es seinem Vater nicht recht machen zu können. Er ist einerseits ein ängstliches, in sich gekehrtes (in den Augen des Vaters verweichlichtes) Kind, andererseits aufmüpfig und dickköpfig, sodass der Vater sich oft nicht anders zu helfen weiß, als ihn mit Schlägen zu bestrafen. Diese körperlichen Züchtigungen stehen im Mittelpunkt des ersten Drittels des Buches, und neben detaillierten Beschreibungen und Erinnerungen an konkrete Situationen sind diese Passagen auch eine essayistisch-theoretische Reflexion des Themas. Es ist sehr bewegend, wie der Erzähler/Autor nicht nur über die (physischen und psychischen) Schmerzen der Schläge (und die passive Mitschuld der machtlosen Mutter) schreibt, sondern auch über die lebenslangen Folgen, die die Schläge seelisch in ihm angerichtet haben. Dabei sehnt sich Daniel im Grunde nur danach, von seinem Vater geliebt und verstanden zu werden, und obwohl er sich (zumindest in seinen Augen) verzweifelt bemüht, es seinem Vater recht zu machen, gelingt ihm dies nie. Gleichzeitig löst das kindliche Leiden eine Liebe zur Literatur und später zum Schreiben aus: Die Phantasie und somit auch die Welt der Literatur bieten eine Möglichkeit, das reale Leid zu vergessen, vor ihm in eine andere Welt zu fliehen. Und hier kommen Franz Kafka, sein Vater und sein Brief an den Vater ins Spiel. Der Erzähler/Autor erkennt die Parallelen zwischen sich und dem jüdischen Schriftsteller in Prag, der (bei allen Unterschieden) auch zeitlebens unter einem despotischen Vater zu leiden hatte und (vielleicht auch aus diesem Grund) Schriftsteller wurde.
Eine weitere und meiner Meinung nach die interessanteste Ebene ist die Umkehrung der Rollen von Vater und Sohn im Laufe der Jahre (und des Textes) bis hin zur Entstehungszeit des Buches, in der der Erzähler/Autor um die sechzig Jahre alt und der Vater ein alter, gebrechlicher, an Demenz und Krebs leidender Mann ist, der auf fremde Hilfe (auch die seines Sohnes) angewiesen ist. Jetzt ist plötzlich der Vater dem Sohn ausgeliefert, und dieser hat die Macht – auch die, sich für erlittenes Leid rächen zu können. Doch die Hilflosigkeit des Vaters löst anderes aus: so etwas wie Verständnis, auch zärtliche Erinnerungen und natürlich die Erkenntnis, dass er ohne seinen Vater wohl nie Schriftsteller geworden wäre (der Vater hat ihm als Kind vorgelesen und Geschichten erzählt). Und es wird klar, dass die schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem Vater im Grunde auch ein Brief an den Vater ist und eine Form, ihn schon im Voraus – nach dem zu erwartenden baldigen Tod – vor dem Vergessen zu bewahren, dafür zu sorgen, dass etwas von ihm bleibt.
Die Sprache von El hijo judío ist klar und schnörkellos und zugleich elegant, was sowohl für die literarischen (wenn er anekdotisch von einzelnen Episoden und Geschehnissen erzählt) als auch die eher essayistischen Passagen (Kafka, Auslassungen über die Beziehung von Erinnerung und Erzählen, etc.) gilt. Man folgt dem Autor gerne in seinem mäandernden Bewusstseinsstrom, auch wenn ich mir an manchen Stellen etwas mehr Tiefe (die Kafka-Bezüge) und vielleicht auch etwas mehr Ausführlichkeit (die ambivalent erfahrene jüdische Lebenswelt, in der der Erzähler/Autor aufwuchs) gewünscht hätte.
Abgesehen von diesen kleineren „Mängeln“ ist das Buch jedoch sehr empfehlenswert, und sowohl das universelle Hauptthema (die komplizierte Vater/Sohn-Beziehung) als auch die Beschäftigung mit Kafka machen das Buch auch für deutschsprachige Leser und Leserinnen interessant.
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