Was macht das hoffnungslose Warten in überfüllten Flüchtlingslagern mit den Menschen? El mar detrás führt mitten hinein in ein alltägliches Elend, vor dem in Europa allzu oft die Augen verschlossen werden, und erzählt anhand der Geschichte einiger Freunde von Verlusten, Ängsten, Abstumpfung, aber auch von Hoffnung.
Nach mehreren belletristischen Titeln für ein erwachsenes Publikum wendet sich Ginés Sánchez mit El mar detrás erstmals an jugendliche Leserinnen und Leser. Der Roman wurde mit dem Preis Gran Angular 2022 ausgezeichnet und ist in der Folge bei Ediciones SM erschienen. Dem deutschen Publikum ist der 1967 in Murcia geborene Autor, der in seinen Romanen häufig sozialkritische Themen in flott erzählten Stoffen anpackt, bisher noch unbekannt.
Isata, die Ich-Erzählerin des Romans, hat ihre Stimme verloren. Zu groß ist das Trauma des Bombenangriffs auf ihr Dorf, des Verlustes ihrer Mutter und der Überfahrt über das Meer, das nun hinter ihr und all den anderen Flüchtenden liegt, die im riesigen Flüchtlingscamp leben. Sie ist in der Unterkunft für Waisen untergebracht, wie der Autor die unbegleitet reisenden Flüchtlingskinder ungeschönt beim Namen nennt. Und ebenso ungeschönt schildert er die Zustände in einem Lager, das aus allen Nähten platzt. Der Alltag von Isata und ihren Freundinnen Dibra und Nadia besteht aus Warten und Schlangestehen. Schlangestehen vor der Toilette, vor der Dusche, bei der Essensausgabe morgens, mittags und abends sowie bei jeder Art des Kontaktes mit offiziellen Stellen. Wo sich das Lager befindet, wird nicht erwähnt, doch es liegt offenkundig in der Nähe des Meeres vor einer Außengrenze der EU, die von Frontex-Soldaten bewacht wird. Das Lager selbst wird ebenfalls bewacht, auch wenn sich Isata und Dibra dank ihrer Papiere, die sie als Asylsuchende ausweisen, auch außerhalb des Lagers bewegen können.
Befreundet sind die drei Mädchen mit Wole, einem Jungen in ihrem – nicht genannten – Alter, der im Lager allerlei Nützliches und Amüsantes wie Seife, Spielzeuge oder Käfige mit Vögeln oder Grillen verkauft. Nach einem zunächst recht gemäßigten, deskriptiven Start nimmt die Geschichte an Fahrt auf, als Wole von einem auf den anderen Tag verschwindet. Besorgt machen sich die Mädchen auf die Suche. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn im Lager zählt ein Menschenleben nicht viel. Die Vertreter der Behörden sind überfordert, und es scheint sich niemand ernsthaft dafür zu interessieren, was mit dem Jungen geschehen ist. Auch Nadia verliert bald die Lust an der fruchtlosen Suche.
Doch Dibra und Isata lassen sich nicht beirren. Allen Widerständen zum Trotz tragen sie Hinweise zusammen und finden schließlich heraus, dass Wole gemeinsam mit seinem Bruder Jasir im Zelt eines Mannes gewohnt hat, der mehrere Jungen für sich arbeiten lässt. Sie müssen stehlen und das Diebesgut verkaufen, um täglich mindestens fünf Euro abzuliefern. Eine Szenerie wie in Dickens‘ Oliver Twist, und tatsächlich erinnert der düstere Papa Zambule an Fagin, den Kopf der Diebesbande im viktorianischen Roman.
Von Jasir erfahren Dibra und Isata, dass die beiden Brüder vorhatten, die gut bewachte Grenze zu überwinden und ihre Flucht gen Norden fortzusetzen. Daher lassen sie sich von Samir, einem weiteren Freund, zu einer Stelle in der Nähe der Grenze bringen. Bei ihren Erkundungen geraten sie unversehens in einen albtraumhaft von Ratten bevölkerten Tunnel und gelangen so auf die andere Seite der Grenze. Dort stoßen sie auf ein illegales Flüchtlingscamp, in dem diejenigen, die sich beim Überwinden der gut gesicherten, vier Meter hohen Grenzzäune verletzt haben, von einem Arzt versorgt werden. In diesem Camp ist auch Wole untergekommen, der die weitere Flucht nicht ohne seinen Bruder Jasir antreten will.
Mit einer List kehren Dibra und Isata in das große Flüchtlingslager auf der anderen Seite der Grenze zurück, wo sie fortan akribisch die Flucht planen. Mit von der Partie sind Jasir und Samir, aber auch Dibras Vater, ein ehemaliger Universitätsdozent, der bislang penibel auf die Einhaltung der Lagerregeln gepocht hat. Denn Dibra bringt eine hoffnungsfrohe Nachricht von der anderen Seite der Grenze mit: Bei der Überfahrt über das Meer haben ihr Vater und sie die Mutter und den Bruder verloren. Und nun scheint es, als wäre zumindest der Bruder, vielleicht aber auch die Mutter, auf der anderen Seite.
Nach umfangreichen Vorbereitungen fliehen sie in der nächsten Neumondnacht. Die Mädchen und Jasir erreichen die andere Seite wohlbehalten. Doch Samir verletzt sich schwer bei dem Versuch, dem Vater über den hohen Grenzzaun zu helfen. Für eine Weile muss er daher im illegalen Camp auf der anderen Seite versorgt werden und Dibra bleibt bei ihm. Die anderen ziehen unterdessen einer ungewissen, aber hoffnungsvollen Zukunft entgegen.
Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Isata, die in Dibra eine Art große und vernünftige Schwester gefunden hat. Das Leiden der Flüchtenden in den erbärmlichen Zuständen eines hoffnungslos überfüllten Lagers wird sehr eindringlich geschildert. Es ist offensichtlich, dass für die detaillierte Schilderung der Umstände Lager wie Moria in Griechenland Pate gestanden haben, auch wenn sich El mar detrás räumlich und zeitlich nicht festlegt und somit eine gewisse Allgemeingültigkeit beansprucht.
Die Suche nach Wole, die Ängste und Nöte der Protagonistinnen sowie schließlich die Flucht aus dem Lager und der illegale Grenzübertritt sind flott und gut lesbar im Stil einer Abenteuergeschichte im ungewohnten Setting geschrieben. In diesem Teil entwickelt der Roman einen Sog, der den Leser gefangen nimmt. Doch die Pluspunkte, die der Roman hier mitbringt, werden durch etwas zu didaktisierte Dialoge geschmälert, in denen Eindrücke und Emotionen ausgewalzt werden, die dem Leser zuvor schon durch Isatas Wahrnehmungen nähergebracht wurden. Einer möglichen deutschen Übersetzung würde es sicher guttun, hier redigierend einzugreifen und die Redundanzen etwas abzumildern.
Alles in allem ist El mar detrás ein durchaus interessanter Jugendroman, der den Fokus auf ein drängendes, aktuelles Problem lenkt. Anders als bisherige Jugendbuchtitel zur Flüchtlingskrise auf dem deutschen Buchmarkt nähert sich der Roman dem Thema nicht durch die Beschreibung der Fluchtursachen oder der Umstände der Flucht, sondern richtet den Blick konsequent auf die Zustände an den Außengrenzen der EU, also auf einen Zeitpunkt, an dem das Meer schon hinter den Flüchtenden liegt, wie der Titel des Romans sagt. Die intensive Schilderung ist sicher dazu angetan, jugendliche Leser zu fesseln. Der Text könnte aber noch gewinnen, wenn in einer deutschen Fassung moderat eingegriffen würde.
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