El sistema del tacto (Pulsschlag)
Autorin: Alejandra Costamagna
Verlag: Editorial Anagrama, 2018, 182 Seiten
Genre: Roman
Gutachterin: Constanze Lehmann
In ihrem jüngsten Werk El sistema del tacto (– auf Deutsch wohl am ehesten mit Puls- oder Herzschlag zu übersetzen) bricht die chilenische Autorin Alejandra Costamagna gekonnt mit traditionellen Erzählkonventionen und erschafft mittels einer Vielzahl unterschiedlicher Texte, Bilder und Textauszüge – darunter konkrete Anleihen aus der eigenen Familiengeschichte – auf ungewöhnliche Art das Portrait einer Familie.
Alejandra Costamagna (* 1970 in Santiago de Chile) veröffentlichte Romane, Erzählungen und Essays und schreibt für verschiedene Literaturzeitschriften. 2003 war sie Residenzstipendiatin im International Writing Programm der Universität Iowa, 2008 wurde sie für ihr literarisches Werk mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. El sistema del tacto ist ihr 5. Roman.
Im Haupterzählstrang des Romans wird die Protagonistin Ania von ihrem Vater gebeten, zu dessen Cousin Agustín nach Argentinien zu reisen, um ihn in seinen letzten Stunden zu begleiten. Sie macht sich auf den Weg von Chile nach Campana in der Provinz Buenos Aires, wo sie als kleines Mädchen die Sommer bei ihren Großeltern, Agustín und dessen Mutter Nélida verbrachte. An Agustíns Sterbebett im Krankenhaus trifft sie ihre Cousine Claudia, bei der Beerdigung begegnet sie Agustíns altem und einzigem Freund Gariglio. Nach der Beerdigung beschließt sie, einige Tage in Campana zu bleiben und begibt sich in das mittlerweile völlig heruntergekommene Haus der Großeltern, in dessen einer Hälfte auch Agustín (sowie seine Mutter Nélida bis zu ihrem Tod vor vielen Jahren) wohnte. Unter den wenigen Dingen, die dort erhalten sind, findet Ania eine Schachtel mit alten Fotos und Agustíns Übungsheften im Schreibmaschineschreiben.
Abgeschottet von ihrer Umwelt verbringt Ania die folgenden Tage im Haus der Großeltern, geht nicht ans Telefon, das immer wieder klingelt, lässt sich nur ein Mal von Gariglio durch Campana führen und besucht zwei Mal den Laden eines uruguayischen Paares, um dort ihre Mails abzurufen. So erfährt sie erst mit sechs Tagen Verspätung, dass ihr Vater in der Zwischenzeit ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Nachdem Claudia in Buenos Aires einen Käufer für das Haus gefunden hat, legt Ania alle Fotos und sonstigen Papiere, bis auf ein Bild ihres Vaters und das erste Heft mit Schreibübungen Agustíns, wieder an ihren Platz zurück und begibt sich im letzten Kapitel des Romans auf die Rückreise.
Der zweite Erzählstrang spielt in den 1970-Jahren und schildert aus Agustíns Sicht einen Sommeraufenthalt der kleinen Ania (von ihm „la chilenita“ genannt) in Campana, die Gedanken, die er sich um die Bücher macht, die sein Freund Gariglio ihr zum Zeitvertreib besorgt, seine Sorgen, die Kinder des Ortes könnten ihre Drohung wahrmachen, ihr, die sie als Emigrantin nicht mehr dazugehört, etwas anzutun. Wie im Erzählstrang um Ania geistert auch durch Agustíns Gedanken und Erinnerungen immer wieder Nélida, die als junge Frau aus Italien nach Argentinien ausgewandert war, um dort seinen Vater zu heiraten, aber niemals glücklich wurde, und die Agustín – wie er meint – hätte retten können, hätte er sie nach ihrem Selbstmordversuch nicht ins Krankenhaus einliefern, sondern aus Campana weggehen lassen.
Zwischen den kurzen Kapiteln der beiden alternierenden Erzählstränge tauchen weitere Texteinschübe auf: Auszüge aus dem Handbuch für italienische Einwanderer von 1913, aus der Gran Enciclopedia del Mundo, den Horror-Romanen, die Agustín für Ania besorgen ließ, Agustíns getippte Übungen und Regeln zum Schreibmaschineschreiben (in Schreibmaschinentypografie und inklusive Tippfehlern) sowie Fotos und handschriftliche Dokumente.
Costamagna konfrontiert den Leser mit einem Potpourri einzelner unkommentiert bleibender Textfragmente und kurzer Handlungskapitel und lässt quasi die Fundstücke aus dem (nicht nur fiktiven) Nachlass selbst sprechen. Der Leser taucht direkt und unmittelbar in die Erinnerungen der Protagonistin und die Gedankenwelt Agustíns ein. Was zunächst etwas rätselhaft daherkommt, fügt sich am Ende zu einem schlüssigen Gesamtbild, ähnlich einer geheimnisvollen Truhe auf dem Dachboden mit bewusst ausgewählten und bisweilen wundersamen Erinnerungsstücken. Während die äußere Handlung relativ schlicht ist, vermittelt Costamagna ein reiches und berührendes Bild vom Innenleben ihrer beiden Hauptfiguren sowie der stets präsenten, wenngleich niemals direkt auftretenden Figur Nélidas (deren auf dem Titel und im Buch abgedruckte Fotos Costamagnas aus Italien stammende Großmutter zeigen).
Im Vordergrund des Romans stehen Themen wie Familie, Heimat, Entwurzelung, Fremdheit, Zugehörigkeit sowie die Frage, inwieweit Veränderungen möglich sind und man ein neues Leben beginnen, in eine neue Haut schlüpfen kann. Mittels der unkonventionellen, heterogenen Erzählstruktur mit ihren ungewöhnlichen und bisweilen skurril anmutenden Textfragmenten, die auf den ersten Blick überraschend und befremdlich wirken, behandelt El sistema del tacto gleichsam auf der Metaebene das Thema Fremdheit.
Unterschwellig werden außerdem die politischen Rahmenbedingungen thematisiert: Der Krieg in Europa, den Nelida miterleben musste und bei dem sie ihren kleinen Neffen verlor; der Beagle-Konflikt zwischen Chile und Argentinien, wenn der kleinen Ania als Fremden und „Landesverräterin“ von den Kindern des Ortes der Kopf eingeschlagen wird, sowie die Diktatur in beiden Ländern.
Herausragend ist vor allem die bildreiche und poetische Sprache Costamagnas, die eine atmosphärisch dichte Stimmung schafft und eine ganz eigene Sogkraft entwickelt. Es wäre sehr wünschenswert, dass der Autorin mit der Übersetzung dieses Werkes erstmals der Sprung auf den deutschen Buchmarkt gelingt.
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