Invisible (Unsichtbar)
Autor: Eloy Moreno
Verlag: Nube de tinta, November 2020, 320 Seiten
Genre: Jugendroman
Lesealter: ab ca. 12 Jahre
Schlagwörter: Mobbing, Mittäterschaft durch Nichteingreifen, Toleranz, Anderssein
Gutachterin: Ursula Bachhausen
Wer hätte sich nicht schon einmal gewünscht, unsichtbar zu sein? Einfach verschwinden können, einer unerträglichen Situation entfliehen … So ergeht es dem Protagonisten von Eloy Morenos eindringlich erzähltem Roman Invisible, der nicht nur die Nöte eines gemobbten Jungen erzählt, sondern auch das Versagen des Umfeldes mit klaren Worten benennt.
Der spanische Autor Eloy Moreno (Castellón de la Plana, 1976), der ursprünglich als Self-Publisher begonnen hat, jedoch schon bald bei angesehenen Verlagshäusern unter Vertrag genommen wurde, ist ein echtes Schreibtalent. Dem deutschen Publikum ist er noch unbekannt, doch in Spanien sind seine mehrfach preisgekrönten Romane (z.B. das Debüt El bolígrafo de gel verde, 2011, und Lo que encontré bajo el sofá, 2013) bei Kritik und Lesern sehr erfolgreich und erreichen teils Bestseller-Status. Der 2018 veröffentlichte Jugendroman Invisible liegt inzwischen in der 20. Auflage vor und wurde bereits in mehrere Sprachen übersetzt. Im Jahr 2020 erschien eine Neuauflage, die um ein neues Schlusskapitel mit dem Titel „El Dragón“ erweitert wurde und dem vorliegenden Gutachten zugrunde liegt.
Der Protagonist des eindringlich erzählten Jugendromans ist ein namenloser Junge. Er ist Schüler im ersten Jahr des Instituto, was in etwa der 7. Klasse in Deutschland entspricht. Verstört erwacht er nach einem nicht näher beschriebenen Unfall im Krankenhaus und fragt sich, wieso er urplötzlich seine Fähigkeit eingebüßt hat, unsichtbar zu sein. Ein Anfang, der beim Leser erst einmal Irritationen hervorruft.
Die Form spiegelt hier ausdrucksvoll den Inhalt. Kurze Kapitel mit wechselndem Fokus – mal als Ich-Erzählung des Jungen, mal aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers, der einzelne Personen aus dem Umfeld des Jungen und ihre ebenso große Rat- und Hilflosigkeit ins Licht rückt, – rufen beim Leser zu Beginn eine ähnliche Orientierungslosigkeit hervor. Andeutungen über den Unfall, die vermeintlichen Superkräfte des Jungen oder die ohnmächtige Sprachlosigkeit des Umfelds ziehen jedoch mit einem unaufhaltbaren Sog in die Geschichte hinein. Hier wird der Grundstein für einen Spannungsbogen gelegt, den der Autor geschickt über den ganzen Verlauf des Romans aufrechtzuerhalten vermag, auch wenn das Thema Mobbing in der Jugendliteratur alt bekannt ist. Doch Invisible unterscheidet sich von bekannten Darstellungen durch die literarische Gestaltung und einen ganz eigenen, lange nachhallenden Sound.
Als der Junge einer zu Hilfe gerufenen Psychologin das Geschehene berichtet, setzt eine chronologische Erzählung ein, die in der Rückschau seinen Leidensweg aufrollt und den Leser unvermutet mit voller Wucht trifft.
Nachdem der Junge, ein echtes Mathe-Ass, den Sitzenbleiber und Klassenrüpel MM nicht hat abschreiben lassen, überzieht dieser ihn mit sich stetig steigernden Mobbingattacken. Aus anfänglichen Pöbeleien wird schnell mehr: Der Junge wird auf dem Schulhof drangsaliert, in sozialen Netzwerken und per Handyvideos der Lächerlichkeit preisgegeben, mit dem Kopf in die Toilettenschüssel gesteckt. In seiner Schultasche werden zunächst Obst, dann Hundekot verschmiert. Dabei werden die ärgsten Übergriffe nur mit wenigen Pinselstrichen angedeutet, das Grauen entsteht vor allem in der Vorstellung des Lesers.
Der hilflose Junge zieht sich immer weiter zurück. Seine Freunde aus Kindertagen können nicht verstehen, warum er sich nicht wehrt, und seine stets beschäftigten Eltern bemerken nichts. Auch die Lehrer ignorieren, was sich so offensichtlich vor ihren Augen abspielt.
Allein die Literaturlehrerin, die, wie sich im letzten Kapitel herausstellt, früher selbst Mobbingopfer war, besitzt feine Antennen für das, was vor sich geht. Als sie sich MM zur Brust nimmt, tobt in ihr ein Konflikt zwischen Herz und Verstand, der literarisch eindringlich als Widerstreit zwischen ihr und dem Drachen-Tattoo auf ihrem Rücken geschildert wird. Nachdem auch sie sich zunächst vergeblich an MMs rotzfrecher Attitüde und der Gleichgültigkeit der Schulleitung abarbeitet, wechselt sie die Strategie. Feinfühlig bringt sie das Thema in der Klasse auf, lässt ihre Schüler zu Schlagworten wie „Feigling“ oder „Streber“ assoziieren und regt damit den einen oder anderen zum Nachdenken an.
Doch für den Jungen kommt diese Hilfe schon zu spät. Sein Peiniger lässt nicht ab von ihm, denn auch er hat viel zu verlieren. MM, der Junge mit den neuneinhalb Fingern, ist seiner Großmäuligkeit zum Trotz ebenfalls ein Opfer. Er braucht die Bewunderung der Mitschüler, da er sich insgeheim als Loser fühlt. Sein ruppiges Auftreten und sein Schulversagen sind Hilferufe, die bei den wahren Adressaten verhallen, ihm bei den Mitschülern aber einen Ruf einbringen, dem er immer wieder gerecht werden muss. Auch MM kann aus der Gewaltspirale nicht ausbrechen.
Der gemobbte Junge flüchtet sich in die Welt der Comic-Superhelden. Als ihn MM und seine Freunde einmal völlig überraschend nicht angreifen, obwohl er ergeben mit geschlossenen Augen auf den unvermeidlichen Übergriff wartet, ist er überzeugt, er habe die Superkraft entwickelt, unsichtbar zu werden. Am Ende des Buches wird sich herausstellen, dass die Lehrerin den Jungen gefolgt ist und sich der Mobber-Bande in den Weg gestellt hat, was der Junge jedoch nicht bemerkt hat. Und tatsächlich scheint er unsichtbar zu werden: Er geht nicht mehr aus, trifft sich mit niemandem mehr, schlüpft vor Unterrichtsbeginn erst im letzten Moment in die Klasse und rennt sofort nach der Stunde wieder hinaus, doch niemand hält ihn auf, niemand bemerkt seine Not oder sucht den Kontakt zu ihm. Er verlöscht nach und nach.
Als er MM ein weiteres Mal im Park begegnet, nässt er sich vor lauter Panik ein. Er ist überzeugt, dass MMs Freunde die Szene mit dem Handy gefilmt haben und ihn nun der Lächerlichkeit preisgeben. Seine Hoffnungslosigkeit ist bodenlos, er will nicht mehr weiterleben und stellt sich beim Herannahen eines Zuges auf die Bahngleise. Die Rettung in letzter Minute schließt den Kreis zum Beginn des Buches, dessen irritierende Rätsel nun, nachdem der Leser die ganze Geschichte kennt, gelöst sind.
Erzählt wird der Roman aus wechselnder Perspektive in z.T. recht kurzen Vignetten, die immer wieder neue Schlaglichter setzen, wer wie und warum reagiert oder eben nicht reagiert. Die Geschichte entfaltet einen enormen Sog und die Leser erleben eine emotionale Achterbahnfahrt, von Mitgefühl über Ärger bis zu Empörung, Wut und letztlich Erleichterung über ein Ende, das zumindest Hoffnung für die Zukunft aufkeimen lässt.
Der Kunstgriff des Autors, die allermeisten Figuren namenlos zu lassen, wirkt nicht aufgesetzt, sondern fügt sich harmonisch in die spannende Erzählung ein. Schnell wird klar, dass der leidende Junge, aber auch die untätigen Zuschauer zwar unverwechselbare Figuren mit eigenen Charakterzügen sind, darüber hinaus aber Allgemeingültigkeit haben. Das, was diesem Jungen passiert, ist kein Einzelfall.
Invisible leuchtet die Ursachen und Umstände von Mobbing aus: schonungslos, gegen den Strich und, trotz eines Endes, bei dem die Leser aufatmen können, nicht ohne einen bitteren Zug, da sich selbst die besten Freunde in ihrer Ohnmacht vom Opfer abwenden. Die Perspektive des betroffenen Jungen mit seiner kindlich-naiven Sprache, in der die Angreifer Monster sind, und er sich Superkräfte herbeisehnt, ist ebenso authentisch wie die des Täters oder des untätigen Umfeldes: Alle haben nachvollziehbare Beweggründe, selbst MM wird in seiner hilflosen Aggressivität nicht einseitig denunziert, sondern glaubwürdig mehrdimensional charakterisiert. So zeigt der Roman durch den Wechsel zwischen der eindringlich-verzweifelten Ich-Perspektive des Opfers, dem Ringen der Lehrerin und des Täters mit ihren jeweils eigenen Dämonen und der auktorialen, leicht unterkühlten Sicht auf Mitläufer und Zuschauer, wie Unterlassung und Nichteinmischung die Spirale der Gewalt erst möglich machen.
Fazit: Eloy Morenos Invisible ist ein durchaus komplexer Jugendroman, der auch von Erwachsenen, Eltern wie Lehrern, mit Gewinn gelesen werden kann. Der Autor hebt den moralischen Zeigefinger, aber sein Roman ist keine platte Betroffenheitsprosa, sondern eine kunstvoll konstruierte literarische Bearbeitung eines Themas, das leider nie an Aktualität verliert. Der Sound des Romans ist unverwechselbar und die sprachliche Darstellung des traumatisierenden Mobbings und seiner drastischen Folgen geht unter die Haut. So hallt die Lektüre von Invisible lange nach, da die Gewissheiten der Leser erschüttert werden und sie damit, im besten Falle, für das reale Leben sensibilisiert werden.
Kurzum: Ich empfehle Eloy Morenos Invisible nachdrücklich zur Übersetzung ins Deutsche.
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