La forastera (Die Fremde)
Autorin: Olga Merino
Verlag: Alfaguara, Barcelona 2020, 233 Seiten
Genre: Roman
Gutachterin: Constanze Lehmann
In einem westernähnlichen Setting kämpft die Protagonistin des Romans um ihre Existenz in der Gegenwart und stellt sich gleichzeitig den Geistern der Vergangenheit.
Olga Merino (* 1965) studierte Informationswissenschaft in Barcelona und Lateinamerikanistik in London und war in den 1990er-Jahren Korrespondentin für El Periódico de Catalunya in Moskau. Für ihre Erzählung „Las normas son las normas“ wurde sie 2006 mit dem Premio Vargas Llosa NH ausgezeichnet. „La forastera“ ist ihr 4. Roman. Derzeit ist Merino Dozentin an der Escola d’Escriptura de l’Ateneu in Barcelona und schreibt für El Periódico. Ihre Werke wurden ins Italienische, Niederländische und Englische übersetzt, eine Übersetzung ins Deutsche fehlt bisher.
Ángela, Anfang 50, lebt seit dem Tod ihrer Mutter allein auf dem heruntergekommenen Landsitz der Familie in einem abgelegenen andalusischen Dorf. Sie gilt als Außenseiterin, lebt zurückgezogen mit ihren beiden Hunden und pflegt nur sporadisch Kontakt zu anderen Außenseitern im Dorf – darunter Ibrahima, ein Senegalese, der unter falschen Papieren auf der benachbarten Hacienda Las Breñas arbeitet, Tomás, ein Barbesitzer, und Rodales, ein 80-jähriger Obdachloser, der mit seiner Hündin in einer verfallenen Mühle haust.
Der Selbstmord Don Julián Jaldóns, Besitzer von Las Breñas, bringt für Ángela einen Stein ins Rollen. Seit Jahrzehnten schon ist die Selbstmordrate im Dorf 3 Mal so hoch wie in anderen Gegenden. Ein Tod scheint den nächsten nach sich zu ziehen, ist förmlich ansteckend und führt zu allerhand abergläubischen Vorstellungen.
Beim sonntäglichen Treffen in der Bar von Tomás erfährt Ángela, dass die vor Jahrzehnten im Brunnen ertrunkene Frau die Großmutter Don Juliáns war und dass dieser sich am selben Tag, im selben Alter und am selben Ort wie sein Vater umgebracht hat. Rodales’ Andeutung, sie wisse nichts über das Dorf und ihre Familie, veranlasst Ángela, Nachforschungen anzustellen. Nach und nach bringt sie Licht in das Netz aus Lügen und Verheimlichungen, das ihre Familie umgibt, und erfährt unter anderem, dass ihr Vater der unehelich gezeugte Halbbruder Don Juliáns ist. Somit ergibt sich eine direkte Verbindungslinie zu den Besitzern von Las Breñas und zur Reihe der Selbstmorde, die diese Familie über die Jahrzehnte erschüttert hat. Ángelas Vermutung, auch der Tod ihres eigenen Vaters vor 40 Jahren könnte ein Selbstmord gewesen sein, wird sich am Ende bestätigen.
Die Erben von Las Breñas planen unterdessen, das Anwesen in ein Luxushotel umzubauen und Ángela von ihrem Land zu vertreiben. Nachdem sie nicht auf das Angebot einer Abfindung von 10.000 Euro reagiert, wird sie immer massiver in die Enge getrieben, ihre Hunde werden vergiftet, die Stromleitung zu ihrem Haus gekappt. Im Dorf schweigen zunächst alle, doch schließlich helfen einige ihrer Bekannten Ángela, einen alten Generator in Betrieb zu setzen, um notdürftig im Haus weiterleben zu können.
In den gegenwärtigen Erzählstrang mischen sich immer wieder Erinnerungen an Ángelas Jugendjahre im London der 1980er-Jahre und ihre Beziehung zu dem englischen Maler Nigel Tanner. Mit ihren hedonistischen Ausschweifungen bilden diese einen starken Kontrast zu ihrem jetzigen Leben auf dem Land, doch auch hier ist das Thema Suizid unterschwellig präsent, da Nigel sich mit 39 Jahren das Leben nahm, wie der Leser gegen Ende des Romans erfährt.
Der Roman endet in einem großen Showdown: Dionisio, der Vorarbeiter von Las Breñas und heimliche Geliebte von Don Julián, erschießt sich im Frühstückszimmer der Erben, Ángela zündet ihr Haus an und legt einen weiteren Brand auf dem Grundstück von Las Breñas. Mit Rodales’ Hündin, die sie adoptiert hat, nachdem dieser ins Altenheim abgeschoben wurde, macht sie sich auf den Weg zum Meer und sieht beim Blick zurück, wie die Flammen das Herrenhaus von Las Breñas umzüngeln. Nach 7 Tagen Fußmarsch steht sie an der Küste, ist endlich mit sich im Reinen und weiß beim Anblick des Meeres, dass noch viele Frühlinge folgen werden.
Olga Merino schafft mit der Ich-Erzählerin Ángela eine starke und allein schon aufgrund ihres Alters ungewöhnliche literarische Frauenfigur. Trotz des zentralen Selbstmordthemas, der drückenden Last der Familiengeschichte und der melancholischen Grundstimmung des Romans ist „La forastera“ auch ein Lobgesang auf den Widerstand, die Freiheit und die Selbstbestimmtheit.
Mit ihren präzisen Naturbeschreibungen, exakten Pflanzennamen, Gerüchen und Farben wird die Natur gleichsam zum zweiten Protagonisten des Romans erhoben. Der Leser atmet förmlich den Staub und die drückende Hitze der rauen Landschaft. Auch die Probleme des ländlichen Spaniens wie Armut und Landflucht werden in der atmosphärisch dichten Erzählung thematisiert. Trotz seiner Anklänge an den Realismus kommt der Roman nicht zuletzt aufgrund seiner Figuren – allesamt Vertreter der modernen Gesellschaft – keineswegs angestaubt oder altbacken daher.
Stilistisch bedient sich die Autorin immer wieder am Wortschatz der ländlichen Bevölkerung, was nicht nur der Glaubwürdigkeit und Atmosphäre zuträglich ist, sondern auch Merinos Liebe zum Wort und zum mitunter sehr poetischen Sprachschatz der Landbevölkerung zeigt.
Ich würde diesem vor allem sprachlich überzeugenden Roman eine Übersetzung ins Deutsche sehr wünschen.
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