Lluvia fina (Feiner Regen)
Autor: Luis Landero
Verlag: Tusquets Editores, Barcelona 2019, 268 Seiten
Genre: Roman
Gutachterin: Constanze Lehmann
In seinem neuesten Roman erzählt der spanische Autor Luis Landero anhand eines bereits im Vorfeld gescheiterten Geburtstagsfestes die Geschichte einer Familie. Neben einem facettenreichen Familienpanorama ist Lluvia fina auch ein Roman über die Macht von Erzählungen und Erinnerungen, wenn diese nach Jahrzehnten zurück an die Oberfläche drängen.
Luis Landero (* 1948 in Alburquerque/Badajoz) studierte Hispanistik und war Dozent für Literatur an der Escuela de Arte Dramático in Madrid sowie Gastprofessor an der Yale University. 1989 erschien sein erster Roman Juegos de la edad tardía (deutsch: Späte Spiele, S. Fischer Verlag 1992). In der Folge veröffentlichte er eine Vielzahl preisgekrönter Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, darunter El mágico aprendiz, 1998 (Der Zauberlehrling, 2006) und El Gitarrista, 2002 (Der Gitarrist, 2006, beides Deutsch von Willi Zurbrüggen). Landero zählt zu den renommiertesten zeitgenössischen Autoren Spaniens.
Im Zentrum des Romans steht Aurora, die Ehefrau von Gabriel. Seit ihrer Heirat vor 20 Jahren vertrauen sämtliche Familienmitglieder aus Gabriels Familie ihr Geschichten und Intimitäten an. Wie der titelgebende feine Regen plätschern diese Anekdoten beständig auf Aurora herab. Sie ist eine geduldige Zuhörerin, hat stets ein offenes Ohr und behält die Geheimnisse der Familie für sich. Wenige Tage vor dem 80. Geburtstag der Mutter beschließt Gabriel, ein Familienfest zu organisieren. Aurora ahnt, dass dieses Fest nicht versöhnlich enden, sondern alte Wunde aufreißen und bestehende Gräben vertiefen wird. Doch bevor sie ihren Mann von seiner Idee abbringen kann, greift dieser zum Telefonhörer und ruft seine Schwester Sonia an. Dieses erste Telefonat löst eine Lawine von weiteren Telefonaten, Gesprächen und Reflexionen aus, die mittels der Erzählerfigur Aurora kunstvoll ineinander verwoben werden.
In den folgenden 6 Tagen der Romanhandlung kochen die Emotionen angesichts des (längst abgesagten) Geburtstagfestes immer weiter hoch, alte Ressentiments und Verletzungen, die seit Jahrzehnten vor sich hinschwelen, brechen erneut auf, denn – wie es gleich zu Beginn des Romans heißt: „Erzählungen sind nicht unschuldig“.
Stück für Stück fügen sich die Anekdoten und Erzählungen vergangener Erlebnisse wie Mosaiksteine zu einem facettenreichen Psychogramm der einzelnen Familienmitglieder zusammen: Der früh verstorbene Vater, ein fröhlicher und lebensbejahender Mensch, der seinen 3 Kindern phantasievolle Geschichten erzählte; die strenge Mutter, die nach dem Tod des Vaters ihre 3 kleinen Kinder alleine durchbringen musste und deren Leitspruch lautet: „Hinter jedem Glück lauert stets das Unglück“; Sonia, die älteste Schwester, die mit 14 Jahren gegen ihren Willen den wesentlich älteren Horacio heiratet, 2 Kinder bekommt, sich scheiden lässt und nun mit Roberto erstmals ansatzweise glücklich zu sein scheint; Andrea, die rebellische Schwester, die Musikerin werden wollte, wegen ihrer aussichtslosen Liebe zu Horacio einen Selbstmordversuch unternahm, als Jugendliche trank und Drogen konsumierte, ins Kloster gehen wollte und Zeit ihres Lebens unglücklich war; Gabriel, der jüngste der 3 Geschwister, ein ichbezogener und in sich gekehrter Philosoph, den selbst Aurora nicht zu durchschauen vermag.
Im Verlauf der Handlung spitzt sich das Familiendrama bis zu seinem tragischen Ende zu, immer erbitterter werden die Vorwürfe und die Verletzungen, wenn beispielsweise Andrea ihrer Schwester gesteht, eine Affäre mit Horacio gehabt zu haben oder Sonia gegen Ende des Romans die bis dahin verschwiegene Wahrheit über Horacio erzählt – dass dieser nämlich pädophil sei, sie während ihrer Ehe immer wieder vergewaltigt und Affären mit anderen Mädchen gehabt habe.
Schon zu Beginn des Romans wird deutlich, dass die Frage nach der Wahrheit nicht eindeutig zu beantworten ist, wenn in Auroras Reflexionen widersprüchliche Erzählungen auftauchen: So hat die Mutter laut Sonia und Andrea stets alles daran gesetzt, die beiden Schwestern ins Unglück zu stürzen, wohingegen Gabriel sie als liebende, aufopfernde, vom Schicksal geprüfte Frau sieht (– was laut Andrea und Sonia nicht verwundert, war Gabriel in ihren Augen doch stets der bevorzugte Liebling der Mutter). Im weiteren Verlauf verschachtelt Landero die unterschiedlichen Versionen einzelner Anekdoten auch innerhalb der Dialoge und schafft dadurch eine Erzählsituation, die in ihrer Unmittelbarkeit und der zurückhaltenden Position des Autors bisweilen eher einem Bühnenstück gleicht. Gesagtes wird relativiert, korrigiert oder gänzlich widerlegt. Welche Version schlussendlich richtig oder falsch ist, bleibt offen. Selbst Aurora verliert sich zunehmend in der Fülle der Widersprüche und fragt sich immer wieder, wer Gabriel, dieser Mann, mit dem sie seit 20 Jahren zusammenlebt, eigentlich in Wirklichkeit ist.
Landero gelingt mit Lluvia fina ein eindringliches Familienportrait, das besonders durch seine kluge und ausgefeilte Erzähltechnik überzeugt. Im Fokus des Romans steht nicht nur die Geschichte dieser einen, speziellen Familie, sondern vielmehr universelle Themen wie Erzählen, Erinnern und Vergessen sowie die Macht des Wortes und die Macht von Erzählungen. Kindheitserinnerungen, so heißt es im Roman, sind stets auch retuschierte Konstrukte, mit Hinzufügungen, Auslassungen, Veränderungen. Je größer die Lücken in der Erinnerung sind, desto detaillierter werden sie im Nachhinein durch Hinzufügen eigener Phantasien oder fremder Erzählungen ausgeschmückt.
Nachdem bereits 4 Romane von Luis Landero bei namhaften Verlagen auf Deutsch erschienen sind, möchte ich auch für dieses Werk eine Übersetzung unbedingt empfehlen!
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