Mit der graphic Novel Los años de internet liegt eine sehr fesselnd geschriebene dystopisch-düstere Geschichte der Digitalisierung und des Internets vor. Damian Bradfield und David Sánchez haben als künstlerisches Duo gemeinsam auf knapp 90 Seiten in fünf thematischen Kapiteln verschiedene Facetten der Überwachung und der Kontrolle im und durch das Internet sehr anschaulich und bedrückend beschrieben. Damit ist ihnen nicht allein ein unterhaltsames, sondern vor allem auch gesellschaftlich relevantes und kritisches Werk gelungen. Nicht zuletzt ist dabei zu begrüßen, dass das Medium der graphic Novel diese sehr diskussionswürdigen und aktuellen Thesen dadurch wahrscheinlich auch einer neuen Leserschaft zugänglich macht. Die Art und Weise, wie die Autoren die Gefahren und das dystopische Potential der Digitalisierung und des Internets sichtbar machen, nämlich indem sie es erzählerisch in die analoge Welt holen, ist durchaus überzeugend und führt bei den Lesenden zu so manchem Überraschungseffekt. Dieses literarische Stilmittel erlaubt es den Autoren, sehr subtil das Ausmaß der Grenzüberschreitungen und des Überwachungspotentials sichtbar zu machen, welche sie kritisieren und anprangern.
Die graphic Novel Los años de internet ist eine Koproduktion von zwei Autoren, die zumindest im Falle von Damian Bradfield auch als Aktivisten bezeichnet werden können und deren Werdegang sie dazu prädestiniert, die Thematik dieser graphic Novel gemeinsam anzugehen und literarisch zu verarbeiten. David Sánchez wurde 1977 in Madrid geboren und widmet sich seit vielen Jahren der Comic-Kunst. Sein Stil wird vielmals als virtuos bezeichnet. Unzweifelhaft hat er eine sehr eigene Art der graphischen Darstellung, die seinen Stil unverkennbar macht. Seine künstlerische Karriere begann mit Publikationen in der Zeitschrift El Manglar und bereits 2011 hat er den Preis des Salón del Cómic de Barcelona gewonnen. Weitere Preise sollten folgen. In seiner künstlerischen Darstellung hat sich David Sánchez seitdem immer weiter entwickelt. Seine Themen und Darstellungen sind dabei nicht für die einfache Unterhaltung gedacht, sondern haben oftmals einen unruhigen, ja auch verstörenden Unterton, die den Lesenden nicht unberührt lassen. Künstlerisch maßgeblich beeinflusst wurde er von dem US-Amerikaner Charles Burn. Neben eigenen Buchpublikationen, die vor allem bei Astiberri, dem führenden Verlag für graphic Novels im baskischen Bilbao erschienen sind, ist Sánchez auch in verschiedenen nationalen und internationalen Publikationen vertreten wie El País oder Rolling Stone. Während David Sánchez in Los años de internet die künstlerische Ausgestaltung verantwortet, hat Damian Bradfield ohne Zweifel die gesellschaftskritische Zielrichtung maßgeblich beeinflusst. Damian Bradfield wurde 1977 im englischen Canterburry geboren und kommt thematisch selber aus der Welt der IT. Er ist Mitgründer und Inhaber von WeTransfer, einem digitalen Tool, um große Datenmengen im Internet zu teilen. 2019 hat er das „Trust Manifesto“ herausgegeben, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Internet, so wie es heutzutage funktioniert und aufgebaut ist. Vom Forbes Magazine wurde Damian Bradfield als eine der einflussreichsten Stimmen in der sogenannten Tech-Szene betitelt.
Die graphic Novel Los años de internet ist lediglich 88 Seiten lang, was auf Grund der thematischen Fülle durchaus bemerkenswert ist. Dadurch fällt es geradezu schwer, beim Lesen auch abzusetzen! Sánchez und Bradfield ist es durchaus überzeugend gelungen, verschiedene Aspekte ihrer internetkritischen Sichtweise in dieser Kürze darzulegen.
Ähnlich der Bots sind viele Personen in Los años de internet tatsächlich Maschinen, auch wenn sie auftreten wie Menschen und uns ihre eigentliche, technische Identität zu verschleiern suchen. So auch die Cookies, die uns auf Grund unserer Interessen und unseres Surfverhaltens durch das Internet „verfolgen“ und uns permanent bestimmte Waren anbieten. Die beiden Ko-Autoren haben dieses in die analoge, menschliche Welt übersetzt, wodurch der Eingriff in die Privatsphäre nur umso deutlicher wird. Auch der Zugriff von Unternehmen auf unseren Alltag, in diesem Fall einer Versicherung, wird problematisiert. Die graphic Novel Los años de internet zeichnet das erschreckende Bild eines gläsernen Bürgers, dessen geheimste Vorlieben und Fantasien diesem Zugriff nicht verborgen bleiben. Personenbezogene Daten werden zu einer Währung, die die Versicherungspolice durchaus im Preis reduziert, wenn wir bereit sind, alles von uns preiszugeben. Auch die Allmacht und marktbeherrschende Stellung von Internet-Giganten wie Amazon, die alles durchdigitalisieren und den Menschen in dieser digitalen Welt zum Verschwinden bringen, wird zum Thema gemacht. Kapitel vier zeigt den analogen Rebellen, nämlich das Individuum, das sich der digitalen Welt nicht hingibt, weder im Bereich der Musik, noch der Fotografie oder des Bezahlens. Wie schwer solch eine Haltung zunehmend wird, zeigt die Geschichte deutlich, denn immer mehr Bereiche des persönlichen Lebens werden durchdigitalisiert. Letztlich wird der Akteur von der Polizei festgenommen, da sein Verhalten als Risiko für die öffentliche Sicherheit wahrgenommen wird. Das letzte Kapitel beschreibt eine Rundfahrt durch die einst blühenden Orte Kaliforniens, die nun zu Geisterstädten geworden sind. Nach dem Gold kam das Öl, nach der blühenden Automobilindustrie das Silicon Valley. Interessant, dass die Autoren auch hier die Vergänglichkeit der Tech-Industrie sehen. Allerdings ist der Blick in die Zukunft geprägt von einem tiefen Pessimismus: Auf dem Mars weht einsam und allein eine Fahne des Handelsriesen Amazon, wobei der Guide auch den Fall dieses Imperiums bereits vorhersagt!
Die graphic Novel Los años de internet thematisiert damit zentrale Elemente des digitalen Kapitalismus. Allerdings ist das Thema so komplex, dass zwischenzeitlich durchaus das Gefühl aufkommt, dass das Medium der graphic Novel die Thematik nur anschneiden kann, Argumente bleiben notgedrungen holzschnitthaft. Dafür gelingt es dem Medium aber umso mehr, über den dystopischen Charakter der Zeichnungen eine durchaus verstörende und beunruhigende Stimmung zu verbreiten. Die Autoren agieren also sehr stark auf der emotionalen Ebene beim Lesenden, was durchaus seine Wirkung entfaltet. Die Entwicklungen des Silicon Valley, so das Gefühl, das die Lesenden beschleicht, dient weniger dazu, den Menschen zu ermächtigen, als vielmehr die Welt dem Menschen zu entfremden. Die graphic Novel Los años de internet ist auf Grund ihres aktuellen gesellschaftspolitischen Themas und der doch sehr besonderen Darstellungsweise, die speziell auf die graphische Ausdrucksstärke von David Sánchez beruht, also durchaus trotz einiger Schwächen für eine Übersetzung zu empfehlen. Sie ist in der spanischen Ausgabe stilistisch sehr hochwertig gestaltet. Wie häufig bei graphic Novels unterstreicht das Hardcover den hohen qualitativen Anspruch. Die Thematik ist zwar nicht auf einen spanischsprachigen Hintergrund zugeschnitten, doch die universelle Relevanz der behandelten Themen macht das Buch auch für eine deutschsprachige Leserschaft ohne Zweifel zu einem großen Gewinn.
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