Los caminos de la luz (Die Wege des Lichts)
Autor: Coia Valls
Verlag: Barcelona: Penguin Randomhouse Grupo Editorial, 2018, 405 Seiten
Genre: Literatur
Gutachterin: Sabine Giersberg
Die Blindenschrift Braille kennt heutzutage jeder, über den Erfinder Louis Braille (1809 – 1852) weiß man hingegen fast nichts. Das wird sich nun dank des wunderbaren Romans von Coia Valls (*1960 in Reus), der im Original auf Katalanisch unter dem Titel Els camins de la llum erschienen ist, hoffentlich ändern. Der Autorin, die als Sonderpädagogin und Logopädin arbeitet und bereits mehrere historische Romane veröffentlicht hat, ist mit der fiktiven Biografie ein großer Wurf gelungen.
Der kleine Louis ist der jüngste Spross einer Sattlerfamilie aus Coupvray und wird 1809 geboren. Mit seinen blonden Locken ist er ein engelsgleiches, aber fragiles Wesen. Als er sich mit drei Jahren durch einen Unfall mit einer Ahle am Auge verletzt und erblindet, scheint sein Schicksal besiegelt. Doch keiner hat mit der Willenskraft des Jungen gerechnet. Auf ihn trifft der Ausspruch Friedrich Nietzsches »Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie«, den die Autorin ihrem Text voranstellt, mehr als zu. Er lässt sich nicht unterkriegen, ist wissbegierig, Bücher sind für ihn der Zugang zur Welt. An einer Stelle im Buch sagt er sinngemäß, durch Spalten könne er die Welt bereits sehen, aber er wolle dafür sorgen, dass diese Spalten zu Fenstern werden, Fenster zum Licht, auf das der Titel anspielt. Unterstützt von seiner Mutter Monique, aber vor allem von seiner Schwester Marie Céline, die Tafeln mit Nägeln bastelt, auf denen zu seiner räumlichen Orientierung Entfernungen zwischen markanten Orten festgehalten sind, wird er zunehmend unabhängiger. Er ist sehr sozial und mutig. Als ein russischer Besatzer im Haus seine Schwester zu vergewaltigen versucht und ihr Kleinkind bedroht, versucht der kleine Louis heroisch sie mit einem Feuerhaken zu verteidigen.
Seiner Beharrlichkeit ist es auch zu verdanken, dass der Abt und der Dorfschullehrer einen Mäzen gewinnen können, der ihm die Blindenschule in Paris bezahlt. Doch der vermeintliche Traum erweist sich schnell als Alptraum. Paris ist ein stinkender Moloch, in dem Gier und Gewalt herrschen, gleich nach seiner Ankunft wird er beraubt. Das Internat ist mehr eine Verwahranstalt, in der die Blinden weggesperrt werden und ohne Hoffnung auf eine Zukunft lustlos die Schulbank drücken. Doch Louis lässt sich seine Zuversicht nicht nehmen und steckt andere mit seinem Optimismus an. Sein Kamerad Gabriel und Margot, die Tochter des Concierge, die sehen kann und ein paar Jahre älter ist, werden seine engsten Vertrauten. Das verabredete Zeichen zwischen ihm und Margot für geheime Treffen ist das Kinderlied „Frère Jacques“. Sie ist es auch, die ihm gemeinsam mit dem Straßenjungen Canard und seiner Clique Paris zeigt.
Louis muss feststellen, dass dem Leiter des Instituts gar nicht an den Kindern gelegen ist, im Gegenteil, sie werden nicht nur vernachlässigt, sondern sie „verschwinden“, sobald sie krank werden. Er deckt auf, dass sie für medizinische Experimente missbraucht werden und macht dies gegen alle Widerstände publik. Dies kostet den skrupellosen Leiter seinen Posten, und an seine Stelle tritt der deutlich humanere Dr. Pignier, der wegen seiner Haltung Anfeindungen ausgesetzt ist.
Louis ist besessen von der Idee, eine Blindenschrift zu erschaffen, und arbeitet hart daran. Gleichzeitig entdeckt er seine Liebe zum Orgelspiel und er bringt es im Verlauf seines Lebens bis zum zweiten Organisten der Kirche Saint-Nicolas-des-Champs. Die wechselvolle Geschichte zeigt, mit welchen Widrigkeiten Louis Braille zu kämpfen hatte, bis sich seine Schrift am Ende durchsetzte. Es wird die politische Dimension des Ganzen deutlich, die Praktiken, wie die Mächtigen eine Gesellschaftsgruppe zu marginalisieren versuchten, weil sie um ihre Macht fürchteten.
Die Lebensgeschichte Brailles wird mit der von zwei anderen Männern verwoben, die entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung hatten. Zum einen Valentin Haüy, der sich aufgrund eines einschneidenden Erlebnisses, bei dem Blinde im Rahmen des religiösen Festes Saint Ovid’s Fair zur Belustigung des Publikums mit Narrenkappen auf Instrumenten spielen mussten, die sie gar nicht beherrschten, für sie einsetzte und das Königliche Institut für junge Blinde gründete. Der andere ist der französische Offizier Charles Barbier, der für militärische Zwecke die sogenannte Nachtschrift erfand, die als Vorläufer der Brailleschrift gilt. Die Autorin referiert diese historischen Informationen nicht, sondern die Figuren sind Teil der Handlung und sehr lebendig gestaltet. Das Paris und die Stimmung der damaligen Zeit werden ohne weitschweifige Beschreibungen trefflich eingefangen und erfahrbar gemacht. So berichtet etwa Barbier bei seinem Besuch in der Blindenschule von einem grauenhaften Erlebnis auf der Place de Grève, wo vier Männer geköpft wurden. Allein durch die Nennung des Namens eines der Verschwörer — Jean-François Bories — wird klar, dass es sich um die Verschwörung von La Rouchelle handelt.
Überhaupt sind es die vielen fiktiven kleinen Geschichten der Figuren, die Coia Valls in insgesamt 65 kurzen Kapiteln präsentiert, die das Buch so lesenswert machen. Etwa die beklemmende Geschichte des Lehrers Tor, bei dessen Familie das Kellergeschoss einstürzte und die Leichen des benachbarten Massengrabes zum Vorschein kamen, und der mitansehen musste, wie seine Mutter in der Folge wahnsinnig wurde, weil ihr jüngstes Kind bei dem Einsturz ums Leben gekommen war. Oder die Emanzipation von Margot, Louis‘ einziger Liebe, die ihren tyrannischen Vater verlässt, nachdem sie erfahren hat, dass er im Krieg ihre Mutter erschossen und sie in die kinderlose Ehe eingebracht hat. Margot ist eine resolute, starke Frau, deren Courage und Pragmatismus schließlich durch ein reiches Erbe belohnt wird. Sie ist es auch, die am Ende Louis zur Seite steht.
Die Kapitel sind mit Titeln versehen, in denen, nach klassischer Manier, der Inhalt bereits angedeutet ist. Durch diese „Taktung“ wird der Lesefluss vorangetrieben, ebenso durch die zahlreichen Dialoge. Die Klammer des Romans bildet das in der Ich-Form erzählende erinnernde Ich, in denen der gealterte, an Tuberkulose erkrankte Louis im Sommer 1948 in Vichy wehmütig auf sein Leben zurückblickt. Diese reflektierenden Passagen haben einen ganz besonderen melancholischen Ton, der einen Kontrast zu den erlebten Passagen bildet, bei denen man in Flashbacks direkt in die Vergangenheit katapultiert wird.
Der Roman endet mit einem Epilog — ein abschließender Kunstgriff —, in dem eine gewisse Anna Squarer am 22. Dezember 1919 einen Brief an Gaston Gallimard schreibt und ihm das Manuskript ungeklärter Herkunft (ein klassischer Topos) andient. Angeblich ist es über Alfred Agostinelli, den Sekretär Prousts in ihre Hände gelangt. Kurz spekuliert sie sogar darüber, ob es aus dessen Feder stammen könnte — ein kleines ironisches Augenzwinkern. Aber in gewisser Weise hat sich natürlich auch Coia Valls auf die Suche nach einem Stück verlorener Zeit begeben: der Geschichte des Louis Braille. Die man sich im Übrigen hervorragend verfilmt vorstellen kann.
Von der ersten bis zur letzten Seite eine spannende Lektüre ohne die oft für historische Romane typischen Ausschweifungen, ein gut durchkomponierter Roman mit lebendigen Figuren und Dialogen, in dem die Stimme des erinnernden Ichs mit den aus auktorialer Perspektive geschilderten Erlebnissen kunstvoll verwoben werden. Und der fiktive Brief an Monsieur Gallimard im Epilog mit der ironischen Anspielung auf Marcel Proust schafft eine weitere Metaebene und ist ein gelungener Coup, der den Leser / die Leserin mit einem Schmunzeln zurücklässt.
Ein Buch, dem man viele Leser wünscht. Eine Autorin, die es für den deutschen Markt zu entdecken gilt. Die Übersetzung sollte keine Probleme bereiten. Fazit: Eine absolute Empfehlung.
Den Mann hielt es kaum auf dem Stuhl. Aus der Hüfte nahm er Schwung und reckte sich nach vorn, den linken Arm gerade durchgedrückt...
WEITER
Martina Streble ist Gründerin des noch jungen Verlags „Edition Helden“, der auf Kindercomics spezialisiert ist. Frau Streble, Sie haben im Jahr 2022 einen Verlag für Kindercomics...
WEITER
Themenbereich
Bienvenidos a Nuevos Libros en Español. Aquí te presentamos títulos españoles actuales por los que...