pequeñas mujeres rojas (kleine rote frauen)
Autorin: Marta Sanz
Verlag: Editorial Anagrama, Barcelona 2020, 344 Seiten.
Gutachterin: Sabine Giersberg
Der Roman der spanischen Autorin und Literaturdozentin Marta Sanz (*1967 in Madrid) ist der letzte Band der Trilogie um den Detektiv Arturo Zarco, dem die Bände Black, black, black und Un buen detective no se casa jamás (Dt. Ein guter Detektiv heiratet nicht) vorausgingen, und es ist ein Buch von einer ungeheuren Wucht, das lange nachhallt. Zum einen durch das an die Nieren gehende Thema – die Entdeckung eines Massengrabes mit Opfern des spanischen Bürgerkrieges, das auf einer realen Begebenheit basiert (die „Fosa de Milagros“) – und zum anderen durch die bildgewaltige, überbordende Sprache, von der Autorin selbst als „barroco rojo“ bezeichnet, die dem Leser einiges abverlangt, ihn dafür aber auch entlohnt.
Es gibt zahlreiche Anspielungen auf Literatur (Hammett, Rulfo, Carroll etc.), Film (Western, Bergmann, Hitchcock, Hanibal Lector etc.) und Kunst (Francis Bacon und seine Darstellung körperlichen Leids in der Tradition der Schreckensmalerei). Die Kleinschreibung beim Titel wurde bewusst gewählt: Es geht um die vielen kleinen Geschichten der Frauen, denen Gewalt angetan wird, inklusive der Protagonistin Paula Quiñones.
Paula Quiñones, eine vom Leben enttäuschte hinkende Schönheit mittleren Alters, reist in das fiktive Dorf Azafrán oder Azufrón, wie ein Scherzbold in Anspielung auf die Hölle auf ein Schild gekritzelt hat, und wühlt im Wortsinn die Vergangenheit des Ortes auf. Sie arbeitet als Freiwillige bei einem Ausgrabungsprojekt mit und landet im heruntergekommenen Hotel des hundertjährigen Patriarchen Jesús Beato und seiner Familie, der es als ehemaliger Barbier durch Denunziationen und Bereicherung am Hab und Gut der Opfer des Bürgerkriegs zu einem beachtlichen Vermögen gebracht hat. Paula lässt sich auf eine Affäre mit seinem Enkel David, dem Apotheker des Ortes, ein. Als sie zu sehr in die Familiengeschichte eindringt und zudem das Notizheft des Alten mit heiklen Informationen findet, ist ihr Schicksal besiegelt.
Die Atmosphäre ist von Anfang an düster, morbide. Paula schreibt Briefe an ihre ehemalige Schwiegermutter Luz, in denen sie ihr ausführlich berichtet, was sie wahrnimmt und tut. Als sie tot mit Folterspuren aufgefunden wird, begibt Luz sich auf Spurensuche und befragt Zeugen im Ort und natürlich die Familie. So zeichnet sie in der Ich-Form Paulas Weg bis zu ihrer Ermordung nach, ordnet und deutet die Informationen neu und folgt auf dieser Ebene der klassischen Struktur des Kriminalromans (inklusive überraschendem Schluss).
Gegen Ende des Buches und mit zunehmendem Wissen um die Umstände und Hintergründe von Paulas barbarischem Tod wird deutlich, dass ihr Bericht, all das, was sie schreibt (sich ausmalt) an Paulas Ex Arturo Zarca gerichtet ist, an dem sie sich stellvertretend für Paula für alle Verletzungen rächen will. Der Ton wird zunehmend emotionaler, aufrüttelnder.
Eine dritte und sehr bewegende Ebene machen die Opfer aus dem Jahr 1936 aus, „die verlorenen Kinder und toten Frauen“, die aus den Gräbern die Ereignisse wie ein Chor in einer sehr rhythmischen, zum Teil lautmalerischen Sprache kommentieren. Ihre Stimmen bilden Anfang und Schluss und umspielen die insgesamt drei Kapitel des Buches. Sie sind mit dem Hinweis „Langsam lesen“ versehen – ein Augenzwinkern der Autorin, die sich als Erzählstimme ebenfalls kurz zu erkennen gibt (mit einem Hinweis auf Hitchcock, der in seinen Filmen auch gerne kurz auftrat). Sie präsentiert sich einerseits eine Stimme unter den vielen im Buch und andererseits eine Art „Gefäß“, in das die anderen Stimmen einfließen.
Wie u.a. an den Namen zu erkennen (Jesús, Beato, Virgen, Luz etc.), hat der Text eine mythische Dimension mit zahlreichen biblischen Anspielungen. Der Text zeichnet ein Fresco der Gewalt, des Leidens und der Unvollkommenheit, wie es Bacon in seinen Bildern tut. Die kruden Gewaltdarstellungen sind an manchen Stellen kaum auszuhalten (etwa als Samuel wie ein Galgo aufgehängt oder Paula in eine Apparatur gespannt wird, mit der man Vieh für medizinische Behandlungen ruhigstellt, um sie zu foltern, wobei Jesús‘ Schwiegertochter (und Tochter?) als Voyeurin alles mit verfolgt). Die Autorin betont in einem Interview, dass sie gegen ein sentimentales, nostalgisches Narrativ der Erinnerung anschreiben wollte. Der Stimmenchor wird beschrieben als eine „aufgekratzte, ausgehungerte, asexuelle, organische, bunt gemischte, internationalistische Legion“, und er zeichnet sich durch einen korrosiven Humor und eine spielerische Komponente aus – auch das Merkmale barocken Erzählens. So haben die Toten ihr eigenes Kommunikationssystem, sie haben Zugriff auf Handys und heischen nach Likes.
Die Konzeption des Romans ist bis hin zum Schluss, in dem die Autorin beschreibt, dass sie sich konkret auf die Entdeckung des Massengrabes „Fosa de Milagros“ in Burgos bezieht, die Handlung aber frei erfunden ist, durchdacht und sehr gelungen. Über den internen Adressaten (Zarco) wird deutlich, was die Erzählerin erreichen will (schocken, verstören, aufrütteln), und die Information, dass reale Gegebenheiten verarbeitet werden, macht es dem Leser unmöglich, auf Distanz zu bleiben. Die Gewalt schreibt sich förmlich in den Text ein. Durch die Erzählebene (Geschichte Paulas und anderer Figuren) wird der Leser „bei der Stange gehalten“, sodass er auch den Sprach- und Gedankenspielen bereitwillig folgt. Die Figuren sind zum Teil Archetypen, aber nicht ohne psychologische Tiefenschärfe. Zudem enthält der Text wirkmächtige Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen. Ein Beispiel ist die Szene, als die kleine Julia, die die Erschießungen im eigenen Garten mitansehen, sich später auf das frisch aufgeschüttete Grab legt und hineinhorcht, ob sie Stimmen hört. Sie wird im Alter wahnsinnig. Als Paula später in dem Garten niedergeschlagen wird, fällt auch sie mit dem Ohr auf eine Grabstätte.
Der Roman beginnt damit, dass die Toten Paula vor ihrem unheilvollen Schicksal bewahren wollen, und er endet mit der Feststellung „dass schlechte Zeiten anbrechen für solche wie uns, und wir wissen durch diese Geschichte und andere, die noch nicht erzählt wurden, dass weder die Schutzengel noch die Märtyrerinnen mit ihren übersinnlichen Kräften wirkungsvoll ihre Schutzaufgaben wahrnehmen können“ (S. 338). Eine düstere Zukunftsprognose. Und ein im Wortsinne bewegender Roman.
Fazit: Ein anspruchsvolles und verstörendes Buch, das den Leser dennoch von der ersten Seite an gefangen nimmt. Das liegt nicht zuletzt am kunstvollen Zusammenspiel der diversen Stimmen und der barocken Sprachgewalt. Marta Sanz schreibt engagierte Literatur auf einem sehr hohen Niveau, die sich bewusst von den gängigen Bearbeitungen der Bürgerkriegsthematik abhebt. Es geht um unseren Umgang mit der Erinnerungskultur – ein brandaktuelles Thema – und vor allem um das Thema Gewalt an Frauen. Für die Autorin hat Erinnerungskultur eine essentielle Bedeutung für die Gegenwart, „ohne den Kampf gegen die schlechte Erinnerung, wird es keine demokratische Qualität in unserem Land geben“. Für sie ist die Sprache, die Vielfalt an Stimmen, Worten und Konnotationen, ein Werkzeug zur Erforschung der Wirklichkeit, ein Vordringen in ihre tieferen Schichten, einer Höhlenforscherin gleich. Das zwingt zum langsamen Lesen, zum Innehalten, zur Konzentration, zu einer kritischen Betrachtung der gängigen Diskurse. Und dieses Experiment gelingt. Der Roman ist so dicht und anspielungsreich, dass er zu mehrmaliger Lektüre einlädt. Es wäre ausgesprochen wünschenswert, wenn dieses Buch (und die Autorin!) demnächst auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht würde. Die Übersetzung des Textes stellt wegen der Fülle an Anspielungen, Konnotationen und Sprachspiele eine große und reizvolle Herausforderung dar.
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