Der renommierte argentinische Autor Hernán Ronsino (* 1975 in Chivilcoy) ist im deutschen Sprachraum bereits gut eingeführt. 2020 erhielt er den Anna Seghers Preis. Es liegen vier seiner Romane in deutscher Übersetzung von Luis Ruby vor. Besonders sein Roman Lumbre (Zürich: Bilger, 2016) wurde von der Kritik in eine Reihe mit den großen Romanen Südamerikas der letzten fünfzig Jahre gestellt. Auch an seinem neuen Roman hat er lange gefeilt (er hat laut eigener Aussage eine erste Fassung komplett verworfen, um den richtigen „Sound“ zu finden). Und herausgekommen ist wieder ein Buch, das von der ersten Zeile an begeistert.
Der drittklassige argentinische Pianist wider Willen Juan Sebastián Lebonté erfährt auf einer Tournee durch Europa vom Tod seines Vaters, eines betuchten Patriarchen. Auf einer Taxifahrt in New York hatte dieser vor vielen Jahren ein Stück des Kultpianisten Bill Turner gehört, von dem er fortan besessen war, und seinen Sohn mit viel Drill zu einer Pianisten-Karriere gedrängt. Lebontés Manager Navia drängt auf einen baldigen Heimflug, doch der Künstler will trotz nur weniger verkaufter Karten unbedingt noch ein Konzert im regnerischen Ostende absolvieren, weil ihn das an gemeinsame Erlebnisse mit dem Vater im argentinischen Küstenort gleichen Namens erinnert. Am Ende schwänzt er den Auftritt und vergnügt sich stattdessen mit der jungen Trompeterin Anne, die er zufällig kennenlernt, was zum endgültigen Zerwürfnis mit dem langjährigen Manager führt. Soweit der Ausgangspunkt der Geschichte, die aus der Ich-Perspektive Lebontés mit einer gehörigen Prise Humor erzählt wird.
In Buenos Aires trifft er auf seine trinkende und kiffende Mutter und seine Ehefrau Natalia, mit der ihn nicht mehr viel verbindet. Er erfährt, dass sein wohlhabender Vater ihm lediglich ein kleines heruntergekommenes Grundstück am Fluss in der Nähe einer Fabrik vermacht hat, die teure Eigentumswohnung in Belgrano hingegen seiner Frau, um ihm über den Tod hinaus noch seinen Willen aufzuzwingen. Lebonté flieht zu seinem alten Studienfreund Polo, der ihn bereitwillig aufnimmt. Als er in der Musikschule, wo dieser unterrichtet, den Schülern über seine Karriere berichten soll, verliert er sich zum Ärger von Polo und seiner Frau in der Geschichte über das Verschwinden eines alten schwarzen Musikers aus Chicago. Es handelt sich um eben jenen Kultpianisten namens Bill Turner, der mit seiner einzigen Komposition, dem Album mit dem Titel Hudson, den Vater so in seinen Bann gezogen hatte, dass er sich ausschließlich damit und mit der Biografie eines gewissen Banthe mit dem Titel „Das geheime Leben des Bill Turner“ beschäftigte, so sehr, dass er nach dem Verlust des Buches ganze Passagen daraus aus der Erinnerung in einem Notizbuch niederschrieb. Besagter Turner war plötzlich aus seinem Haus in Chicago verschwunden und erst Monate später in einer Hütte mitten in der Natur zusammen mit seinem Schäferhund wieder gefunden worden. Er konnte sich nur noch an einen blauen Vogel auf einem Lichtmasten vor dem Blackout erinnern. Die Geschichte um die Entstehung des Albums erfährt im Verlauf immer wieder neue Varianten.
Im Fiat Uno seines Kumpels flieht Lebonté zu El Refugio, dem geerbten Haus in der Peripherie, das von einer Gruppe von Aussteigern, Gewerkschaftlern und Gescheiterten bewohnt wird. Er verschweigt seine Herkunft und versucht einen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Er gibt sich als Ruiz aus, wie der gleichnamige Pianist, der auf diversen Plakaten prangt und den er von früher aus Musikhochschulzeiten kennt. Dem vor sich hindämmernden schwer verletzten Jungen mit Namen Cuesta erzählt er an einsamen Abenden aus Langeweile seine Geschichte und offenbart, wie es ist, „mit zusammengebissenen Zähnen Klavier zu spielen“.
Im Schuppen entdeckt er plötzlich den Bösendorfer Flügel seiner Jugend. Das weckt Erinnerungen an die einsamen Tage mit seinem Vater in Ostende, an denen er immer wieder Schumanns Kreisleriana üben muss, um bei der berühmten Klavierlehrerin Anita Labaronie aufgenommen zu werden. Dies schlägt zunächst fehl, doch am Ende lässt sie ihn aus Mitleid zu (zum Schluss enthüllt ein in Chicago entstandenes Foto der beiden, dass sie offenbar ein Verhältnis hatten).
Lebonté ist von eigenwilligen Gestalten umgeben, da ist Cuesta, der Vogelstimmen imitiert, Drogen nimmt, klaut und regelmäßig ausrastet, die Krankenschwester und Überlebenskünstlerin Julia, die den alten Veteranen Mamocho versorgt – einst ein Bär von einem Mann und seit einer Hirnblutung nur mehr ein Schatten seiner selbst -, die gewitzte kleine Eva, ihre Tochter, der verschlagene Dángelo, der Geschichtenerzähler, der stets seinen Vorteil im Blick hat, und Ipólito, der Boss der Gruppe.
Als der Schuppen nach einem Unwetter baufällig geworden ist und der Flügel sich nicht transportieren lässt, sägt er kurzerhand die Beine ab, und das Instrument bleibt amputiert zurück. Er entdeckt noch weitere Gegenstände aus dem Besitz seines Vaters. Am Schluss des Romans wird er in einem Akt der Katharsis den Schuppen samt Inhalt anzünden und sich einem neuen Leben zuwenden, indem er gemeinsam mit den anderen das Haus neu aufbaut. Das Geld stammt aus dem Verkauf des seltenen Albums Hudson an eine geheimnisvolle Frau, für das er unvorstellbare 2000 Dollar erhält (auch hier stellt sich die Frage, ob das Album ein Fake ist).
Doch zuvor fliegt er erstmal auf und fast aus der Gemeinschaft. Dángelos Frau erkennt die Ähnlichkeit mit dem Vater, der mit einem Schlägertrupp die Gemeinschaft vom Grundstück vertreiben wollte, was den Tod der verehrten Anführerin Hilde mit sich brachte. Dank Julias Unterstützung kann Lebonté bleiben.
Auf humorvolle Weise wird das Thema der Ambivalenz zwischen Determiniertheit und Freiheit durchgespielt (die Vögel als Boten der Freiheit sind ein durchgängiges Motiv). Ein weiteres zentrales für die argentinische Literatur prägendes Motiv ist das Scheitern, das sich nicht nur in der Lebensgeschichte des Protagonisten, sondern auch in den proliferierenden Geschichten der anderen Figuren manifestiert. So ist beispielsweise die junge Julia auf einen älteren Betrüger namens Siracuse hereingefallen, der sie schwängert und hintergeht. Ein Geldfund im Garten entpuppt sich als wertlos, vielleicht ist aber auch hier Betrug am Werk und Julias Bruder Toguita ist mit der doch erhaltenen Kohle durchgebrannt. Auch die Gemeinschaft wird bei einer Gewerkschaftsveranstaltung, für die sie die Holzbänke hergestellt hat, um ihren Lohn und ihre Anerkennung gebracht. Der Akt der Solidarität endet mit einer Prügelei, bei der Lebonté zwischen die Fronten gerät. Man fühlt sich in die Welt des Tangos oder Roberto Arlts versetzt.
Strukturell ist der Roman in drei gleich lange Teile gegliedert. Mit kurzen Sätzen entwickelt Ronsino einen rhythmischen Sog, zu dem auch die Musikalität des argentinischen Spanisch beiträgt. Auch die Dialoge sind in den Erzählfluss eingebettet.
Der Pianist Bill Turner ist eine Erfindung. Das Album Hudson, das sich inhaltlich auf den legendären Fluss bezieht, ist zugleich eine Anspielung auf den argentinisch-englischen Schriftsteller, Naturforscher und Ornithologen William Henry Hudson (1841-1922), dessen berühmtestes zur Gaucho-Literatur zählendes Werk La Tierra Purpúrea zur Abendlektüre Lebontés und Julias wird.
Die Anklänge an die argentinische Erzähltradition sind vielfältig. Wie bereits erwähnt, scheinen die Welt des Roberto Arlt und des Tangos auf. Das Einbringen erfundener Autoren und apokrypher Werke neben real existierenden ist ein beliebtes Element bei Jorge Luis Borges. Doch bei allem Ludischen fließt auch der historische Kontext der Militärdiktatur in Form von Reflexen der die Gesellschaft prägenden Gewalt und Oppression in der kleinen Gemeinschaft mit ein.
Fazit: Hernán Ronsino hat auf engem Raum ein vielschichtiges, nachhallendes Universum mit einem Ich-Erzähler geschaffen, dem man gerne zuhört. Eine unbedingte Empfehlung!
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