Die in Spanien sehr bekannte Autorin und Journalistin Elvira Lindo, Ehefrau des auch in Deutschland hochgeschätzten Autors Antonio Muñoz Molina, hat mit En la boca del lobo einen mitreißenden und zugleich verstörenden Roman vorgelegt, der mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat.
Die 1962 in Cádiz geborene Autorin hat in Spanien bereits zahlreiche Romane und Kurzgeschichten vorgelegt und auch Kinderliteratur geschrieben. Bekannt ist sie u.a. wegen der Reihe Manolito Gafotas (Manolito die Brillenschlange) um einen sympathischen zehnjährigen Jungen der Arbeiterklasse aus dem Madrider Stadtbezirk Carabanchel, von der auch Bände auf Deutsch vorliegen. Auch bei dem hier vorgestellten Roman geht es um das Thema Kindheit, um das Fortwirken (traumatisierender) kindlicher Erfahrung im Psychischen in Jugend und im Erwachsenenalter – in diesem Fall umgesetzt in einem kunstvoll inszenierten Roman.
Die zwölfjährige Julieta reist mit ihrer Mutter, die sie nur bei ihrem Vornamen Guillermina nennt, aus der Stadt Valencia in das Dörfchen La Sabina, aus dem die Mutter und die Großmutter Esmeralda stammen und wo sie nach dem Tod des Onkels nun das heruntergekommene Familienhaus geerbt haben. Die Mutter war mit sechzehn ungewollt schwanger geworden, die Großmutter in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Stadt gezogen, wo sie als Schneiderin sehr schnell ihre großen Träume begraben musste und ein tristes Dasein als „la Chanel de Benimaclet“ fristete. Mutter und Großmutter beklagen ihr jeweiliges Schicksal und die kleine Julieta wächst unter schwierigen Bedingungen auf. Die Mutter ist oft „abwesend“, kopflos, bekommt ihr Leben nicht auf die Reihe, dann wieder klammert sie sich an das Mädchen, das sich zunehmend zurückzieht und Probleme in der Schule bekommt.
Erzählt wird das Ganze zunächst aus der Perspektive Julietas. Im Dorf angekommen, scheint im einfachen Landleben erstmal Ruhe und Frieden einzukehren. Es leben nur noch ein paar alte Frauen und Männer dort, die Kinder haben ihr Lebensglück woanders gesucht. In einer umgebauten Scheune im Wald lebt die faszinierende Emma, eine unkonventionelle, frei denkende und freizügige Lehrerin, die mit ihrem Freund auf der Suche nach einem Leben in der wilden Natur dorthin gezogen war – ein Projekt, das nur bis zum Einbruch des Winters hielt – und die von der Dorfgemeinschaft abgelehnt wird. Julieta fühlt sich angezogen von der geheimnisvollen Aura und der unbändigen Energie und Emma bringt ihr die Natur näher. Die Grenzen von Realität und Phantasie beginnen zu verschwimmen und der Text bekommt immer wieder einen sehr poetischen Tenor.
Nach und nach treten die Geheimnisse des Ortes zutage. Emma unterhält ein Verhältnis zu dem Bäcker Leonardo. Die Romanze findet ein jähes Ende, als während eines Stelldicheins der an Lungenentzündung erkrankte kleine Sohn Leonardos in einen kritischen Zustand gerät und die verspätete Fahrt über die verschneite Straße ins Krankenhaus ihn nicht mehr retten kann. Leonardo und seine Frau Virtudes verzweifeln daran, und auch an Emma geht der Tod nicht spurlos vorüber.
Der Roman wechselt immer wieder zwischen Erzählperspektiven und Zeiten hin und her, er funktioniert wie eine Art Kaleidoskop, das immer wieder neue Bilder hervorbringt. Dies ist zunächst verwirrend, aber die einzelnen Erzählstränge lassen sich rekonstruieren. Es wird zunehmend Spannung aufgebaut. Warum weigert sich Julieta am Ende des Sommers so hartnäckig das Dorf zu verlassen und mit ihrer Mutter wieder nach Valencia zu gehen? Es ist der Tag ihrer ersten Menstruation, die sie mit einer Kröte im Unterleib vergleicht (so ist der Teil auch überschrieben). Die Kröte gilt als Symbol der personifizierten Todsünde, der Wollust. Welche Geschichte verbirgt die Mutter, die auf einem Foto als kindliche Jungfrau abgelichtet ist und dann so jung schwanger wird?
Die erschreckende Auflösung kommt am Ende, als Julieta mit über dreißig in das Dorf zurückkehrt, wo sie einige Jahre zuvor die Asche ihrer Mutter verstreut hat, und sich noch einmal in das Haus und das Kinderzimmer begibt, um sich dem Trauma von damals zu stellen. Der über Andeutungen aufgebaute Verdacht des Lesers / der Leserin bestätigt sich durch einen alten Brief der Zwölfjährigen an die Mutter, in dem sie offenbart, dass Rafael, der Lebensgefährte der Mutter, sie regelmäßig missbraucht und verkündet hat, mit ihr Geschlechtsverkehr haben zu wollen, sobald sie ihre Regel hat. Die Mutter scheint alle Anzeichen zu übersehen und schweigt, vielleicht aus Rache über die eigene ungewollte Schwangerschaft. Julieta ist inzwischen selbst schwanger und unterhält eine Beziehung zu ihrer Jugendfreundin Virturditas, der Tochter von Virtudes und Leonardo. Die beiden sind in das Dorf gekommen, um ihre Beziehung bekannt zu geben.
Der Roman ist in drei Teile geteilt, die Überschriften haben alle mit dem Tierreich zu tun: „Die Kröte“, „In der Höhle des Löwen“ (wie auch der Buchtitel) und „Der Waschbär“. Dies zeigt, welch große Bedeutung die Natur im Buch einnimmt, wovon auch die faszinierenden Naturbeschreibungen zeugen. Aber es geht natürlich auch um die symbolische Bedeutung. Mit der Höhle des Löwen assoziiert man Gefahr, tollkühnes Handeln, mit dem Waschbär Sensibilität und Anpassungsfähigkeit. Insofern bilden die Überschriften – zu denen noch zahlreiche literarische Motti hinzukommen – eine Art Verlaufskurve der Spannungsaufbaus ab.
Der Roman ist eine komplexe Erkundung kindlicher Psyche. Elvira Linda gelingt es mit viel Phantasie und märchenhaften Anklängen die Kindheit in ihrer Einzigartigkeit, ihrem Reichtum, aber vor allem ihrer Verwundbarkeit und ihrem Ausgeliefertsein darzustellen. Die Kritik sieht zu Recht Parallelen zu Ana-María Matute und Carmen Laforet, die ihren festen Platz im Kanon haben. Julieta stellt sich am Ende der Erinnerung / dem Trauma. Sie konfrontiert sich (und die Leserschaft) mit der schonungslosen Wahrheit. Für sie ist es eine Form von Exorzismus, für den Leser / die Leserin erstmal ein Schock, der einen verstört zurücklässt.
Die Figuren sind gut gezeichnet, vor allem Julieta und Emma, die eine mythische Dimension hat. Im Gegensatz zu den Frauen des Dorfes („ellas“), die immergleiche Rollenmuster ausführen (was sich auch in der Namensweitergabe an die nachfolgende Generation spiegelt), verkörpert sie das ewig Weibliche, die Verführerin, die Kämpferin. Der Roman behandelt noch weitere Themen, wie die überwältigende Macht der Natur, die Fallstricke der Idealisierung des Landlebens, die aussterbenden Dörfer, die Zwänge, aber auch die Solidarität des Lebens in Gemeinschaft, die Vereinsamung der alten Menschen durch die Corona-Maßnahmen. Das macht ihn so vielschichtig und interessant. Und bei aller thematischen und ästhetischen Komplexität gelingt es der Autorin über den Rhythmus der Sprache einen Flow zu erzeugen.
Fazit: Eine klare Empfehlung. Elvira Lindo hat mit ihrem gelungenen Psychogramm, bei dem Realität und Phantasie verschmelzen, ein komplexes und aktuelles Thema so aufbereitet, dass es den Leser / die Leserin „packt“. Zugleich ist es in weiten Teilen ein sehr poetisches Buch, in dem die Natur eine große, man möchte fast sagen heilende, Wirkung entfaltet. Kurzum: Ein Buch, das lange nachhallt. Und dessen Übersetzung mit Sicherheit Freude macht. Möge es bald den deutschen Buchmarkt erobern und viele LeserInnen begeistern.
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