Seis formas de morir en Texas (Sechs Arten in Texas zu sterben)
Autorin: Marina Perezagua
Verlag: Editorial Anagrama, Barcelona 2019, 286 Seiten.
Gutachterin: Sabine Giersberg
Die Autorin Marina Perezuaga (*Sevilla 1978) hat mit Seis formas de morir en Texas (dt. Sechs Arten in Texas zu sterben) einen originellen Roman vorlegt, der dem Leser auf äußerst kunstvolle Weise zwei schwierige kritische Themen näherbringt: den florierenden Handel der chinesischen Regierung mit den Organen von Gefangenen und Oppositionellen auf der einen Seite und das Inhumane der Todesstrafe auf der anderen. Es ist ein Roman, der bewegt und verstört, der flammender Protest und zugleich eine poetisch-mythische Reise in anthroposophische Dimensionen ist.
Die inzwischen in New York lebende Autorin, die Kunstgeschichte studiert hat, verwebt dafür die Geschichte der Nachkommen von Zhou Honquing, der am 2. Februar 1984 im Hof einer Strafanstalt hingerichtet und seines Herzens beraubt wurde, mit der von Robyn, die im Alter von siebzehn Jahren in ihrem Trailer im Drogenrausch ihre eigene Mutter ermordet haben soll und seit sechzehn Jahren im Todestrakt der Mountain View Einheit in Gatesville, Texas vor sich hin vegetiert. Xinzàng, Zhous Enkel, ist nach dem Tod seines Vaters aus China nach Texas gekommen, um dessen Vermächtnis zu erfüllen, das Herz des Großvaters zu finden, denn nach buddhistischer Tradition kommt der „shen“ - der Geist, die Seele - nicht zur Ruhe, solange das Herz in einem fremden Körper weiterschlägt. Jahrelange, komplizierte Recherchen hatten ergeben, dass dieses Herz einem Edward Peterson aus Texas transplantiert wurde. Dieser ist zwar verstorben, aber da es einen Sohn gibt, ist ein Teil des „shen“ auf ihn übergegangen, und Xinzàng will die unrechtmäßige Aneignung rückgängig machen.
Es gibt einen nicht direkt an der Handlung beteiligten Ich-Erzähler, der die Ereignisse kommentiert und in weiteren Passagen hinter der Schilderung derselben zurücktritt, aber den größten Teil des Textes machen die berührenden Briefe Robyns an ihren Vater und ihren Geliebten Zhao aus, den sie erst im Gefängnis über Briefe kennengelernt hat und der zu ihrer Vertrauensperson geworden ist, in die sie all ihre Wünsche und Sehnsüchte projiziert, die sie im wahren Leben durch die Inhaftierung nicht ausleben konnte. Robyn, die seit sechzehn Jahren im Todestrakt ausharrt, lebt nur auf ihre Hinrichtung per Injektion hin, die für den 11. Dezember 2017 geplant ist. Die Briefe beginnen im September desselben Jahres. Robyn hat mit ihrem biologischen Vater (ihre Mutter wurde aufgrund einer Samenspende schwanger), der sie ebenfalls im Gefängnis besucht, einen Deal geschlossen: Sie, die ohnehin zum Tode verurteilt ist, gibt ihm, dem Herzkranken, ihr Herz. Im Gegenzug spendet er ihr seine Netzhäute, damit sie, die seit dem siebten Lebensjahr blind ist, die Welt, die sie bald verlassen wird, noch einmal sehen kann.
Robyns Briefe sind eindringlich, schonungslos, manchmal auch mystisch, wenn sie sich in eine erotische Ekstase steigert, in der sie ihr individuelles Schicksal transzendiert. Man erfährt viel über den grausamen Alltag im Gefängnis, die Tage und Nächte in der Zelle ohne natürliches Licht, das miserable Essen, über die Willkür und den Sadismus der Wärter bis hin zur Vergewaltigung, das Sprechverbot, die Ablehnung und Rachsucht der Gesellschaft, die kein Verzeihen kennt, die Pannen bei den Exekutionen. Immer wieder antizipiert sie ihren imminenten Tod, dem für sie etwas von seiner Tragik durch die Tatsache genommen wird, dass er auf dem OP-Tisch erfolgen wird. Dieser Handlungsstrang kulminiert in der detaillierten Beschreibung des Prozesses der Herztransplantation zwischen Tochter und Vater, wobei explizit auf den Mythos von Chronos bezuggenommen wird, der seine Kinder verschlingt. Über den gesamten Roman hinweg wird eine Metaebene geschaffen, die das Dargestellte ins Universelle hebt.
Der andere Erzählstrang, der einen anderen, sachlicheren, distanzierteren Grundton hat, ist die Auseinandersetzung mit der grausamen Praxis des Organhandels in China. Xinzàngs Großvater war einer von 11.000 Menschen, die in den 80er-Jahren in China hingerichtet wurden. Vielen von ihnen wurden bei lebendigem Leib Organe entnommen. Was wie eine Horrorfiktion anmutet, ist grausame Realität, wie die Autorin durch Verweise auf dokumentarische Quellen belegt (wie übrigens auch in Bezug auf den Gefängnisalltag). Xingzàng trifft auf Doktor Wang, einen Kardiologen, der – Ironie des Schicksals – statt Herzen zu heilen, die unmenschliche Praxis mit ansehen musste. Augenzeugen kommen zu Wort, und es stockt einem als Leser der Atem. Jeder kennt wahrscheinlich die auch in unseren Städten stattfindenden Protestaktionen gegen den Umgang der Kommunistischen Partei Chinas mit den Anhängern des Falun Gong, einer spirituellen Praktik nach den moralischen Grundsätzen Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht. Der Roman zeigt, wie der politische Gegner weggesperrt, gefoltert und im wahrsten Sinne des Wortes ausgeweidet wird – ein brisantes Thema. 2017 hatte sie sich in ihrem Roman Yoro (dt. Hiroshima, Ü: Silke Kleemann, Klett-Cotta 2018) bereits kritisch mit den Schrecken der Geschichte und den Problemen der Gegenwart auseinandergesetzt. Der Autorin gelingt es, den Leser mitzunehmen, sein Interesse zu wecken. Durch die Art der Darstellung erscheint die fernöstliche Kultur als eine andere, fremde, die als solche auch einen Reiz ausübt (präsent durch fremde Bilderwelten und Gedanken, die in beiden Erzählsträngen vorkommen).
In einer Passage wird das grausame Totschlagen von Schweinen mit Stöcken auf einem spanischen Landgut mit dem Ausweiden der lebendigen Körper in geheimen Lagern in China parallel gesetzt, die als „Vorrat“ gehalten werden. Der Mensch erscheint im Zwiespalt von Zivilisation und Barbarei. Die Figuren sind Individuen und Kollektiv zugleich. So sagt Robyn „Mein wahrer Name ist nicht Robyn, sondern „Lebende-Lebendige-Lebenslustige-Erotische Frau. Und mein Nachname ist Frei“ (S.262).
Die Beziehung zwischen beiden Erzählsträngen wird zunehmend dichter, bis sie in dem sehr konstruierten Schluss zu einem künstlichen „Happy End“ zusammengeführt werden. Zhao entpuppt sich als Xinzàng, der Robyn hintergangen hat, um an ihr Herz zu kommen, da ihr Vater der Sohn des Trägers des gestohlenen Herzens ist. Er hat den Vater angestiftet, Robyn zu töten, damit der „shen“ Ruhe findet. Dieser hat jedoch stattdessen irrtümlich ihre Mutter ermordet, die er nicht in dem Trailer vermutet hatte. Xinzàng gesteht und flüchtet nach China, Robyn kommt frei, muss jedoch mit Trauer und Betrug fertig werden. „Betrachte dich als frei, befreit von mir und der schlimmsten der sechs Arten in Texas zu sterben“, lautet der letzte Satz im abschließenden Brief des vermeintlichen Geliebten.
Das Buch ist in sechs Kapitel nach thematischen Schwerpunkten unterteilt: 1. Die Bewohner; 2. Die Blindheit; 3. Die Organe; 4. Der Todestrakt; 5. Das Herz; 6. Der Abschied. Es gibt einerseits eine klare Struktur und identifizierbare Stimmen wie die des Erzählers, die der Briefeschreiber mit Robyn als Protagonistin und die der Augenzeugen, aber die Genregrenzen sind fließend: Es gibt essayistische, journalistische, denunzierende, medizinische Passagen, aber auch solche onirischer, lyrischer oder eschatologischer Natur. Des Weiteren sind auch Elemente des Kriminalromans zu finden (Tötungsdelikt, Aufklärung).
Auch wenn der Roman krude realistische Beschreibungen enthält, wie beispielsweise die Zeugenaussagen über die Organentnahme bei lebendigem Leib ohne Anästhesie, und die Autorin auch durch die Fußnoten den dokumentarischen Charakter betont, ist die Erzählung eine fiktive, artifizielle (was sich u.a. auch an dem konstruierten Schluss zeigt) – ein Kunstwerk eben.
Es handelt sich um ein anspruchsvolles, aber mitreißendes Buch, das sowohl ästhetisch als auch thematisch punkten kann, und damit sicherlich auch im deutschsprachigen Raum seine Leser finden würde, zumal die Autorin hier keine Unbekannte ist. Fazit: Engagierte Literatur auf hohem Niveau, die brisante Themen aufgreift. Eine klare Empfehlung.
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