Autor: Pablo Martín Sánchez
Verlag: Acantilado / Quaderns Crema, Barcelona, 2016, 218 Seiten
Genre: Roman
Gutachter: Luis Ruby
Barcelona 1977: Eine Elfjährige entführt einen Windhund, ein reicher Unternehmer veranlasst eine Säuglingsentführung, eine linksradikale Zelle hat es wiederum auf ihn abgesehen. Mit Lokal- und Zeitkolorit gesättigtes, sprachlich hochdifferenziertes Kaleidoskop der Umbruchzeit nach Francos Tod.
Pablo Martín Sánchez veröffentlichte 2011 den Kurzgeschichtenband Friktionen und 2012 den Roman Der Anarchist, der so hieß wie ich (Empfehlung von New Spanish Books hier: http://www.newspanishbooks.de/bucher/el-anarquista-que-se-llamaba-como-yo).
Buchhändler, Schauspieler, Übersetzer, promovierte in Vergleichender Literaturwissenschaft und ist Mitglied des Collège de 'Pataphysique und des Oulipo (siehe unten zu Sprache und Stil).
Die elfjährige Clara Molina Santos lebt mit ihrer Hausmeister-Mutter in einem gutbürgerlichen Wohnhaus im Eixample-Viertel. Um den Zudringlichkeiten eines Mitschülers zu entgehen, schwänzt sie einen Schulausflug und fährt stattdessen zur Hunderennbahn.
Dort leidet der in die Jahre gekommene Windhund Solitario VI an wenig pfleglicher Behandlung durchs Personal und freut sich unbändig, als das Mädchen ihm zur Freiheit verhilft.
Gerardo Fernández Zoilo, in seinem Heimatland Chile politisch verfolgt, unterrichtet in Barcelona an der Uni. Als er mit einer Studentin anbandelt, plagt ihn das schlechte Gewissen, weil sich das eigentlich schlecht mit seiner Untergrundtätigkeit in einer linksradikalen Zelle verträgt.
Selbige Studentin, Carlota Felip Bigorra, geht als Reporterin Gerüchten nach, nach denen in einer Geburtsklinik Säuglinge verschwinden.
Der Unternehmer José María Raich y Ros de Olario ist einer der Kunden, die von diesen Machenschaften profitieren: So klappt es bei der Tochter endlich mit dem Nachwuchs.
Seine Mutter wiederum, vor vielen Jahren bei einem Brand ums Leben gekommen, überlebt als Gemälde im Wohnzimmer des Sohnes – im selben Haus, in dem auch Clara wohnt. Und kommentiert in aller Selbstverständlichkeit das, was sich vor ihren Augen abspielt.
Das fehlende Verbindungsstück zwischen diesen Beteiligten und abwechselnd Erzählenden ist die Entführung des Unternehmers durch Gerardos revolutionäre Zelle.
Das alles geschieht an einem einzigen Tag des Jahres 1977. In der Stadt gärt die Transition – der Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie –, die ersten freien Wahlen stehen vor der Tür, auf den Straßen wird demonstriert und geprügelt (was wir mit der Elfjährigen und dem Windhund erleben). In Wirtschaftskreisen werden blendende Geschäfte gemacht; mittendrin statt nur dabei der Unternehmer Raich y Ros de Olaño, u.a. bei einem Empfang im Hotel Ritz, wo er fast traumwandlerisch durch Gesprächsfetzen watet, nicht halb so ernst wie die Häppchen, mit denen er sich den Bauch vollschlägt.
Eine letzte Perspektive und Stimme besteht in der direkten Anrede des zu entführenden (anfangs auch noch zu gebärenden) Kindes in kurzen Passagen, die die Handlung umrahmen. Diesen entstammt der Titel Dir gehört das Morgen, einem zeitgenössischen Protestsong entnommenes Zitat, mit dem dann auch offiziell das Volk an die Urnen getrommelt wurde.
Pablo Martín Sánchez' Schreiben speist sich aus zwei Quellen. Zum einen spielt er die ernsthaften Spiele des Oulipo, jenes losen Verbundes von Autoren, die sich komplexe Regeln und Beschränkungen auferlegen, um ihrer Imagination einen Rahmen zu geben. U.a. folgt sein zweiter Roman der lyrischen Form der Sestine: Die sechs sich abwechselnden Stimmen rotieren nach einem vorgegebenen Schema durch sechs Tageszeiten (Mitternacht, früher Morgen etc.).
Zum anderen recherchiert er präzise das historische Feld, durch das er sich bewegt, die Ereignisse wie die Sprache(n) und Töne, auch den Soundtrack der Zeit. Verschiedene Diskurse und Positionen werden angetippt oder auch mal ironisch dick aufgetragen, Reaktionäre und Revoluzzer in ihrer unmäßigen Überzeugtheit aufgeführt, Kriegs- und Friedensgewinnler in ihrem maßlosen Zynismus.
Die Rede der Protagonisten ist von Elementen der politischen Rede durchzogen, aber auch von ihrer eigenen Idiosynkrasie geprägt, ihren menschlichen Nöten und Sehnsüchten, die einen sympathischer, die anderen weniger, alle ernstzunehmen, keine Pappkameraden. Das ist stellenweise hochkomisch, stellenweise scheint auch Tragik durch.
Dem Leser wird in diesem polyphonen Roman nichts vorgekaut. Er bewegt sich hellhörig und amüsiert durch ein vielschichtiges Panorama der spanischen Transitionszeit, frei, Eindrücke aufzunehmen und sich ein eigenes Bild zu machen.
Tuyo es el mañana ist eine dichte, dabei temporeiche Erzählung, der historische Hintergrund wesentlich zugänglicher als in Martín Sánchez' Erstling. Die Stimmenvielfalt des Autors fällt in der spanischen Gegenwartsliteratur im besten Sinne aus dem Rahmen, sie ist bemerkenswert konsistent und profitiert von einer erheblichen Bandbreite an Mitteln.
In all seiner literarischen Gemachtheit wirkt der Roman nicht artifiziell. Wer sich darauf einlässt, erlebt eine Orts- und Zeitbegehung sui generis, je nach eigener Kenntnis mit hohem Wiedererkennungswert, in jedem Fall voller Überraschungen, diskret geführt, engagiert und augenzwinkernd zugleich. Unbedingt empfehlenswert.
Sechs Stimmen sind nachzubilden, die ganz unterschiedlichen Milieus und Generationen angehören. Dabei klingen diverse zeitgeschichtliche Kontexte an, Politjargon, Ökonomie, Jugendsprache, eine sehr differenzierte Patina bis hin zu Sprichwörtern und Redewendungen aus noch länger vergangener Zeit (der Rede der alten Dame auf dem Gemälde); dazu verdeckte Zitate und allerlei Zitathaftes. Das erfordert ein hellwaches, ja, archäologisches Lesen und daran anschließend entsprechende Gestaltung. Reizvoll, aber auch aufwändig.
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