Autor: Lola Beccaria
Verlag: Editorial Anagrama 2004, 209 Seiten
GutachterIn: Nadine Mutz
Lola Beccaria hat einen wunderbaren erotischen Roman geschrieben, der mit den gesellschaftliche Normen und Tabus bricht und gleichzeitig einen großen moralischen Ehrgeiz hat: „Wesentlich ist für mich, dass jeder in der Lage ist, unter allen anderen seinen eigenen Platz zu finden.“
Die spanische Autorin und Sprachwissenschaftlerin Lola Beccaria (geb. 1963) ist neben ihrer schriftstellerischen Arbeit auch als Drehbuchautorin und Regisseurin sowie seit 1987 in der Real Academia Española als Lexikografin und Linguistin tätig. Neben verschiedenen Erzählungen und zahlreichen wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten hat sie bislang fünf Romane veröffentlicht. Für ihren Roman El arte de perder wurde sie mit dem Premio Azorín 2009 ausgezeichnet. Der vorliegende dritte Roman Una mujer desnuda (2004) wurde aufgrund der begeisterten Reaktionen der Kritiker und Leser bereits in mehrere Sprachen übersetzt (u.a. ins Französische und Italienische).
Die siebenjährige Martina wächst in einem strengen Elternhaus auf. Die Aufmerksamkeit ihrer Eltern erfährt sie nur nach einer gelungenen Ballettvorführung vor geladenen Gästen im Salon. Darüber hinaus hat sie keine Zärtlichkeit oder Zuwendung zu erwarten. Der Gang auf die Toilette wird zum Symbol für das Menschliche, das dem Mädchen versagt ist. Sie lernt, das Bedürfnis zu unterdrücken, um ihre Eltern auf Ausflügen nicht in Verlegenheit zu bringen. Doch gelingt es ihr nicht immer. Nachdem sie wieder einmal vor Gästen des Hauses ihr Talent unter Beweis gestellt hat, verspürt sie einen unüberwindlichen Drang und lässt es einfach die Hosenbeine hinunterlaufen. Damián, einer der Gäste, begleitet sie unauffällig auf die Toilette. Ergriffen von der Fürsorge und körperlichen Nähe, die ihr in diesem Augenblick zuteil werden, verfällt sie dem Arzt Damián in ergebener Liebe. Nach einigen Begegnungen zu Hause und in der Praxis, bei denen es zu körperlichen Annäherungen kommt, bricht er den Kontakt ab, um das Mädchen, aber auch sich selbst zu schützen. Er geht mit „Ärzte ohne Grenzen“ nach Indien. Es folgen schwere, leidvolle Jahre für Martina, die es nicht erwarten kann, bis die entbehrungsvolle Kindheit ein Ende nimmt. Lange hofft sie auf Damiáns Rückkehr. Als sie schließlich 17 Jahre alt und längst kein unbeschriebenes Blatt mehr ist, lässt sie sich auf eine Affäre mit Hernán, dem Vater einer Schulfreundin, ein. Monatelang verbringen sie die Nachmittage in einer eigens angemieteten Wohnung und lassen ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen nach sexueller Berührung freien Lauf. Bis Hernán aus beruflichen Gründen den Kontinent verlässt.
Als sie nun das zweite Mal in ihrem Leben verlassen wird, weiß sie, dass sie sich nie davon erholen wird. Sie ergibt sich in ihr Schicksal und studiert Jura wie ihr Vater. Gegen Ende ihres Studiums entscheidet sie sich für eine Karriere in der Politik. Die Arbeit als Anwältin in der Kanzlei ihres Vaters erträgt sie nicht. All die Gesichter der Betrogenen, Ruinierten, Geschändeten erinnern sie an ihr eigenes Unglück. Sie wendet sich ab und verkehrt fortan ausschließlich in gehobenen Kreisen. Nicht zuletzt durch ihre Ehe mit einem langweiligen Abgeordneten schafft sie es bis zur Innenministerin. In der diffusen Hoffnung, wenigstens irgendetwas auf der Welt zu verbessern, wenn sie auch lieber zur Sexministerin ernannt worden wäre, um alle Barrieren und Tabus niederzureißen und die Gesellschaft zu revolutionieren. Denn die Sexualität sei das einzige und perfekte Spielzeug, überdies erschwinglich, das den Erwachsenen zur Verfügung stehe. Die Sexualität als etwas Sündhaftes anzusehen, sei so unnatürlich wie lächerlich und eine Verschwendung und Missachtung des Lebens überhaupt.
Bald wird ihr klar, dass ihr als Ministerin in allen wirklich wichtigen Dingen die Hände gebunden sind. Sie ist nichts weiter als eine Marionette. Die Trostlosigkeit ihres Daseins – die Flucht in das Sexleben der Bars und Kneipen bleibt ihr nun als Ministerin verwehrt – versucht sie, in den Armen des Außenministers zu vergessen. Bald aber steht jener wegen eines Herzleidens nicht mehr zur Verfügung. Nur ihre beiden Leibwächter, in denen sie zwei wahre Freunde findet, können sie jetzt noch retten und tragen ihrem enormen Bedürfnis nach Körperkontakt Rechnung. Doch erst als sich ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit auftut, Damián, der sich wegen Verführung Minderjähriger vor Gericht verantworten muss, durch ihren Einfluss als Ministerin zu helfen, kann sie ihre Person, ihr Innerstes, nach außen tragen, erschließt sich ihr der Sinn des Lebens, versöhnt sie sich mit sich selbst und kann endlich ein ehrenvolles Leben führen, nicht das einer reinen „Überlebenden“.
Lola Beccaria ist mit Una mujer desnuda ein kleines Meisterwerk gelungen. Spannend und mitreißend erzählt, zieht sie den Leser in den Bann von Martina Irancos Geschichte, die so authentisch wie aufwühlend ist. Von der ersten bis zur letzten Zeile ist man von Martinas Schicksal berührt. Die erotischen Momente sind so gekonnt inszeniert, dass sie trotz ihrer mitunter erschreckenden Drastik einer wilden Romantik nicht entbehren. Die Intensität der Begegnungen, die nicht zuletzt durch eine präzise unverblümte Sprache transportiert wird, bekommt der Leser deutlich zu spüren. Doch handelt es sich hier nicht nur um einen gelungenen erotischen Roman, sondern um ein tiefgehendes und tragisches biografisches Zeugnis, das eine völlig andere Perspektive auf die Gesellschaft zulässt.
Einer Übersetzung sind keine Steine in den Weg gelegt. Die sehr lebendig und akzentuiert erzählte Geschichte, bereichert durch eine schöne, mitunter poetische Sprache, lädt im Gegenteil zu einer kreativen Übertragung ein.
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Martina Streble ist Gründerin des noch jungen Verlags „Edition Helden“, der auf Kindercomics spezialisiert ist. Frau Streble, Sie haben im Jahr 2022 einen Verlag für Kindercomics...
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