La ternera (Das Kälbchen)
Autorin: Aurora Freijo Corbeira
Verlag: Editorial Anagrama, Barcelona 2021, 128 Seiten
Gutachterin: Martina Mauritz
La ternera ist ein äußerst gelungenes Buch über ein aktuelles und schwieriges Thema: Sexueller Missbrauch. Geschrieben aus der Rückschau der Erwachsenen, aber aus dem Blickwinkel eines fünfjährigen Mädchens und in einer eindrucksvollen da gleichzeitig sachlichen wie poetisch verdichteten Sprache. Die Lektüre ist nicht angenehm, aber wichtig.
Aurora Freijo Corbeira (*1965, Madrid) hat Philosophie studiert und einen Master in Onthologie und zeitgenössischer Philosophie. In Perdidos para la Lectura (2011) näherte sie sich philosophisch der Literatur deutschsprachiger Autoren wie Hertha Müller, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek oder Peter Handke; 2015 veröffentlichte sie Tanta luz. Pasolini. Mit Vertretern aus Philosophie, Literatur, Kunst, Design und Psychologie hat sie vor drei Jahren den Verlag Las migas también son pan begründet; erschienen sind dort bisher sorgsam edierte Texte von Botho Strauss, Jacques d’Adelswärd-Fersen und Christa Wolf. La ternera ist Freijos erstes literarisches Werk.
Der Begriff „Werk“ scheint angesichts der locker gefüllten 128 Seiten übertrieben, doch das Thema wiegt umso schwerer und rechtfertigt den Terminus. Aus der Perspektive eines fünfjährigen Mädchens erfahren wir von dem fortwährenden Missbrauch durch den Nachbarn der Familie. Es geschieht im Bad von dessen Wohnung, auf dem gleichen Stockwerk, wo das Mädchen mit seinen Eltern lebt. Weil die Eltern viel beschäftigt sind und gerade das dritte Kind geboren wurde, verbringt es die Nachmittage nach der Schule beim Nachbarn. Das Mädchen hat keinen Namen, jedenfalls keinen wie Laura oder María. Es ist „la ternera“, das Kälbchen. Der Nachbar ist (der) Metzger. Diese Gleichsetzung durchzieht den Text und wird ergänzt durch weitere Analogien wie die von Jäger und Gejagtem. So ist das Kälbchen auch zuweilen Gazelle, Hase oder Frosch. Durch den Vergleich entsteht immer wieder ein Freiraum, denn im Text wird zum Beispiel beschrieben, wie dem Frosch die Haut abgezogen wird, aber nicht, was dem Mädchen genau passiert. Dieser Raum wird beim Lesen individuell gefüllt. Dadurch dass wir das Geschehen aus der Sicht und mit den Worten des Kindes erfahren, gibt es keine klar ausformulierten Beschreibungen, sondern Auslassungen und Leerstellen; je weniger konkret beschrieben wird, desto mehr Raum bleibt bei der Lektüre.
Wir Erwachsenen werden durch den Blick des Kindes auf seine Augenhöhe gebracht. Immer wieder befinden wir uns mit ihm in diesem Bad, mit der Hose zwischen den Knien, der Hose, dessen Gewicht es spürt, und die wahrscheinlich für Jahre, vielleicht für immer da bleiben wird. „Sordo baño que ni oye ni habla. […] El lavabo un muro. Sus ojos llegan al borde de ese muro.“ (Das Bad ist ein unnützes Bad, es ist ein taubes Bad, das nicht hört und nicht spricht. Das Waschbecken ist eine Mauer. Seine Augen reichen zum Rand der Mauer).
Das Unaussprechliche, die Nicht-Kommunikation ist der Kern des Buches und aus der Sicht der anderen ist es deren Blindheit. Die Frage, wie kann es den Eltern nicht auffallen, warum merkt der Vater nichts, die Mutter nichts, stellt das Kind, aber es ist in allen Fällen von Kindesmissbrauch auch immer die Frage der Außenstehenden. Das Kind will sich der Mutter mitteilen, aber es kann nicht, weiß nicht wie. Es will sich widersetzen, aber seine Bewegungen sind keine und seine Geräusche haben keine Stimme. Es erinnert an einen Alptraum, in dem man vor den Verfolgern wegrennen will, aber keinen Zentimeter vorwärts kommt. Dies ist eine Stelle, an der wieder die Erwachsene aus der Rückschau spricht, die sagt, dass sie später lernen wird, sich das Unverzeihliche zu vergeben.
Das zentrale Thema ist demzufolge nicht so sehr der Missbrauch an sich als die Einsamkeit, die aus der Unfähigkeit der Mitteilung resultiert. Die Einsamkeit wird zu einer weiteren Person in dem Buch, sie ist immer an der Seite des Mädchens. „Der Herr der Einsamkeit“ ist der Nachbar. Das Kind ist durch „das Geheimnis“ ausgegrenzt, abgetrennt von den anderen, es fühlt sich wie in einer Glasglocke, es findet keine Worte, um das zu kommunizieren, was ihm passiert. Und die Eltern und die anderen Erwachsenen, die Mutter des Nachbarn zum Beispiel, die mit ihrem Sohn zusammenlebt, sind viel zu beschäftigt mit anderen Dingen, als auf das Mädchen zu achten.
Die Struktur des Buches ist nicht fortlaufend, zwar vergehen die Tage, aber die Zeit läuft wie in einer Spirale, nur der Sonntag bedeutet Ausbruch, da das Mädchen dann nur bei seiner Familie ist. Aber auf den Sonntag folgt wieder der Montag und die Badezimmerbesuche beginnen erneut. Der Eindruck einer Momentbeschreibung wird auch dadurch verstärkt, dass in den kurzen Kapitelfragmenten oft Worte und ganze Sätze wiederholt werden. Die wiederkehrenden sprachlichen Bilder erinnern an Autoren wie Celan oder Lorca, es sind hermetische dunkle Analogien: der Engel der Melancholie, der schwarze Ozean im Kind, roter Mohn, dazu das Rot des Blutes. Und die Wortfelder zu Jagd, Opfer oder der Zubereitung von Fleisch ziehen sich durch den Text und tragen zum Eindruck der verdichteten, stehengebliebenen Zeit bei.
Dass das Geschehene immer im Jetzt bleibt, ist womöglich der Kern von Gewalterfahrung, die Hose zwischen den Knien ist der Missbrauch, der nie vergessen werden kann: „Su pantalón bajado hasta las rodillas en esas tardes ya no se separará de sus pies durante años, quizá nunca.“ In der zweiten Hälfte des Buches wird die Zukunft erwähnt, dass der Nachbar das Mädchen irgendwann in Ruhe lässt, dass es als Erwachsene ein „normales“ Leben führen wird. Aber im nächsten Kapitelfragment ist der Nachbar wieder da, ist die Erfahrung wieder da, auch wenn er für immer weggehen sollte: „Él está en todas partes […] siempre vuelve“. Daher endet das Buch auch folgerichtig mit dem sich nähernden Montag.
Aurora Freijo Corbeira ist mit dem Buch La ternera ein eindrückliches sprachliches Korrelat der fortwährenden Last des sexuellen Missbrauchs gelungen, dessen Übersetzung ins Deutsche ich empfehle. Aufgrund der einfachen Sprache sollte die Übertragung keine Schwierigkeit darstellen.
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