Museo animal (Tiermuseum)
Autor: Carlos Fonseca
Verlag: Anagrama, Barcelona, 2017, 430 Seiten
Genre: Literatur
Gutachterin: Sabine Giersberg
Schon mit seinem ersten Roman Coronel Lágrimas (dt. Tränenoberst), 2015 ebenfalls bei dem renommierten Verlag Anagrama erschienen, hat der junge Autor aus Costa Rica (*1987) im spanischsprachigen Raum für Furore gesorgt. Auch der neue, sehr ambitionierte Roman wird von der Kritik gefeiert, ein Kritiker spricht von einer „novela torrencial“ - und zu Recht. Die proliferierenden Geschichten reißen einen mit, bis man sich im Dschungel der wechselnden Identitäten und Spiegelungen verliert. Nicht umsonst wird Carlos Fonseca bereits in einem Atemzug mit Ricardo Piglia und Roberto Bolaño genannt, die er auch selbst zu seinen Vorbildern zählt. Der Autor, der in Princeton promoviert hat und an der Cambridge University in London lehrt, gehört zu einer Generationen junger Intellektueller, die sich von alten Mustern gelöst haben, deren großes Thema aber weiterhin die Frage nach der Identität Lateinamerikas geblieben ist.
Der Autor benennt zwei klassische Traditionslinien, in denen sein Roman zu lesen ist: Die Linie Faulkners, in die sich vor ihm Autoren wie Juan Rulfo, Juan Carlos Onetti oder Juan José Saer eingeschrieben haben, und die von Borges‘ hochintellektuellen Gedankenspielen inspirierte Linie eines Ricardo Piglia (dem der Roman auch gewidmet ist) oder den postmodernen Romanen eines Don DeLillo. Zusätzlich sind in den Roman zahlreiche weniger bekannte kleine historische Geschichten sowie philosophische (Badiou, Derrida) und inspirierende Betrachtungen zur Kunstgeschichte eingeflossen. Für Fonseca ist der Schriftsteller ein Nomade, das Schreiben ein Akt ständiger Bewegung. Entstanden ist ein faszinierendes Kaleidoskop, das die eigenen, aber vor allem die fremden Bilder über Lateinamerika, die Utopien des Südens, die so viele angezogen haben, einer kritischen Betrachtung unterzieht. Im Mittelpunkt des Romans steht die Camouflage.
Der Roman besteht aus fünf Teilen, in denen die Geschichten der beteiligten Figuren erzählt werden. Der erste Teil unter dem Titel „Naturgeschichte“ (1999-2006) erzählt die Begegnung des Ich-Erzählers, Mitarbeiter in einem Tiermuseum, mit der rätselhaften Modedesignerin Giovanna Luxembourg, für die Mode die Kunst des perfekten Verschwindens ist und die deshalb eine große Faszination für Mimikry und Mimesis in der Tierwelt hegt. Über seltsame Anrufe bestellt sie den Erzähler aus New Brunswick immer wieder zu Konsultationen nach New York, um dann aus seinem Leben zu verschwinden. Schnell ist er der Frau und ihren mysteriösen Geschichten erlegen. Nach den Treffen geht er stets in eine heruntergekommene Bar, wo eine ältere Frau zu später Stunde obsessiv alte Zeitungen liest – die Figur obsessiv lesender Menschen ist ein Leitmotiv des Romans. Zu Beginn der Erzählung ist Giovanna bereits (jung) verstorben und sendet ihm überraschend als Nachlass mehrere Mappen mit Fotos und diversen Artikeln. Bei der Beschäftigung damit, stellt sich heraus, dass Giovanna in Wirklichkeit Carolyn Toledano heißt und die Tochter eines israelischen Fotografen namens Yoav Toledano und einer Schauspielerin namens Virginia McCallister ist, die beide Ende der 70er Jahre plötzlich von der Bildfläche verschwunden sind.
Giovanna Luxembourg war als Kind im Urwald krank zurückgelassen worden und hatte sich von ihrer Familie losgesagt – um dann, Ironie des Schicksals, an einer Erbkrankheit zu sterben, wie sie dem Erzähler in einem nie abgeschickten Brief erklärt. Das Entscheidende liegt im Ungesagten. Dem Erzähler wird nun auch die obsessive Beschäftigung Giovannas mit dem legendären Subcomandante Marcos klar, der sich, stets vermummt, für die Rechte der Indígenas einsetzte, und dessen Identität nie gelüftet wurde. Der Roman ist historisch zwischen dem Ende der 70er Jahre und dem Jahr 2014 verortet.
Im zweiten Teil unter der Überschrift „Der Ruinensammler“ (2007) verfolgt der Erzähler die Geschichte von Giovannas Vater, dem Fotografen Yoav Toledano, der aus Israel über Spanien, auf den Spuren seiner Vorfahren wandelnd, nach New York ausreist, wo er sich als Fotograf einen Namen macht und eine amour fou mit der jungen Virginia McCallister erlebt. Im Drogenrausch leben sie ihr Bohème-Leben, bis die berühmte Schauspielerin einen Hang zu Esoterik und linken Utopien entdeckt und obsessiv zu schreiben beginnt. Selbst die Geburt ihrer Tochter Carolyn 1967 gerät zur Nebenepisode und kann sie nicht von ihrer Besessenheit ablenken. Als sie einem trunksüchtigen amerikanischen Apostel auf der Suche nach dem gelobten Land in die Urwälder Lateinamerikas folgen und die kleine Carolyn schwer erkrankt, erkennt Yoav als erster die Illusion hinter dem Unterfangen. Die Suche nach dem Guru entpuppt sich als Farce, das Paradies als korrumpierter Ort, der nichts mit den Traumbildern vom Süden gemein hat. Yoav zieht die Reißleine, bringt die Kleine in ein Krankenhaus, entsagt dem bisherigen Leben und zieht sich für den Rest seines Lebens in ein verlassenes Bergarbeiterdorf zurück, um sich seinen Passionen (wie dem Schachspiel) zu widmen.
Der dritte Teil, „Die Kunst auf der Anklagebank“ (2008), beschäftigt sich mit dem mysteriösen Wiederauftauchen der verschwundenen McCallister nach über dreißig Jahren unter dem Namen Viviana Luxembourg in San Juan de Puerto Rico. Der Ich-Erzähler erfährt davon über seinen Freund, den Journalisten Trancredo, einem schrägen Vogel, der dorthin reist und ihn mit Informationen versorgt. Der Fall wirbelt viel Staub auf, weil die ehemalige Schauspielerin beschuldigt wird, durch die bewusste Verbreitung von fake news die Börsenkurse beeinflusst zu haben, und auf der Anklagebank sitzt. Sie baut ihre Verteidigung auf dem Argument auf, dass es sich um einen künstlerischen Akt handelt (im Stil des „Happenings für ein totes Wildschwein“ dreier argentinischer Künstler, das Ende der sechziger Jahre für Aufsehen sorgte), und bestellt diverse Künstler und Kunsttheoretiker als Zeugen ein. Der junge, unerfahrene Anwalt Esquilín vertieft sich in ihre umfangreichen Schriften und wird alsbald in den Sog der charismatischen Frau gezogen. Auch das Leben des ermittelnden Detektivs Burgos gerät nach der Begegnung mit einem seltsamen, stummen, überall tätowierten jungen Mann, dessen Wohnung mit Wandbildern einer obskuren Schöpfungsgeschichte ausgekleidet ist und der über Nacht spurlos verschwindet, völlig aus den Fugen. Er verfällt dem Alkohol und verschwindet schließlich ebenfalls.
Der vierte Teil, „Der Marsch Richtung Süden“ (1977) erzählt bilderreich von der Wallfahrt der Familie in den Urwald auf der Suche nach dem Guru, wo sie neben dem trunkenen Apostel auf in der Einöde auf einen seltsamen alten Mann treffen, der das gesamte Werk von Kleist liest, auf ein einsames Kind, dem göttliche Eigenschaften nachgesagt werden, auf einen Drogenboss, der ein Dorf kontrolliert, auf Menschen, die sinnentleerte, rituelle Akte vollziehen. Er endet mit dem Zurücklassen der kleinen Carolyn/Giovanna mitten im Niemandsland im Krankenhaus, wo ihr fremde Krankenschwestern Geschichten erzählen.
Der letzte und kürzeste Teil, „Nach dem Ende“, handelt von einer Ausstellung in Costa Rica, deren Ausrichtung Giovanna für sieben Jahre nach ihrem Tod vorgesehen hat und die den Ich-Erzähler zurück in sein Herkunftsland und über die Ausstellungstücke zu einer erneuten Auseinandersetzung mit den Theorien seiner seltsamen Gefährtin vergangener Zeit führt.
Alle Kapitel werden ergänzt von kleinen Texten, in den die Figuren zu Wort kommen, und einzelne Leerstellen aus ihrer Perspektive ergänzen.
Museo animal ist ein vielschichtiger Roman, der sich nicht nacherzählen lässt, bevölkert von originellen, teils schrägen Figuren (wie die guatemaltekische Ikonoklastin, die Heiligenstatuen in einer Kirche verbrennt, dem Alkohol verfallen ist und die Gedichte Cesar Vallejos liest). Die schillerndste Figur ist zweifellos Virginia McCallister.
Man folgt dem mäandernden Erzählstrom des Ich-Erzählers in einer eleganten, geschliffenen Prosa, den vielen kleinen eingeschobenen Geschichten. Leitmotive wie Rausch, Flucht, Zerstörung tauchen immer wieder auf. Das zentrale Motiv ist das Verschwinden. Figuren tauchen ein in fremde Welten, verlieren sich in rituellen Akten, das Erzählen führt zu immer neuen trügerischen Enden. Es blühen die Gerüchte, Versionen. „Das wahre Werk ist das Verschwinden selbst“ heißt es an einer Stelle (S. 250). Das Ideal der Kunst ist die Kopie, der Schriftsteller ein Programmierer, ein anonymes Wesen. Zugleich stellt der Roman erneut die Frage nach der komplexen Beziehung von Kunst und Realität. Die vielen Facetten können hier nur angerissen werden.
Fazit: Ein großartiger, phantasievoller und intellektuell anregender Roman, der, auch wenn er an manchen Stellen, vor allem im letzten Kapitel, ein wenig „überfrachtet“ wirkt, es verdient, ins Deutsche übertragen zu werden, eventuell mit einem kleinen Anmerkungsapparat.
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Martina Streble ist Gründerin des noch jungen Verlags „Edition Helden“, der auf Kindercomics spezialisiert ist. Frau Streble, Sie haben im Jahr 2022 einen Verlag für Kindercomics...
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