Nada que no sepas (Nichts, was du nicht weißt)
Autorin: María Tena
Verlag: Tusquets Editores, Barcelona 2018, 239 Seiten
Genre: Roman
Gutachterin: Constanze Lehmann
In María Tenas autobiografisch inspiriertem Roman Nada que no sepas begibt sich die Ich-Erzählerin auf eine Reise an die Orte ihrer Kindheit und Jugend, um die mysteriösen Umstände um den Tod ihrer Mutter aufzuklären. Neben Einblicken in das bunte Leben im Montevideo der Sechzigerjahre steht vor allem das Thema Erinnerung in all seinen Facetten im Vordergrund dieses feinsinnigen und unaufdringlichen Romans.
María Tena (*1953 in Madrid) verbrachte ihre Kindheit als Diplomatentochter in Dublin und Montevideo. Sie studierte Philosophie, Geisteswissenschaften und Jura in Madrid und veröffentlichte Erzählungen in verschiedenen literarischen Zeitschriften. Derzeit unterrichtet sie an der Escuela de Escritores in Madrid autobiografisches Schreiben und Belletristik. Nada que no sepas ist ihr 5. Roman und wurde 2018 mit dem Premio Tusquets ausgezeichnet.
Der Roman beginnt mit dem wohl einschneidendsten Tag im Leben der namenlosen Ich-Erzählerin – dem Tag, an dem ihre Mutter Lucía tödlich verunglückt und die Erzählerin und ihr Bruder Tomás von einem Tag auf den anderen von Montevideo zurück nach Spanien geschickt werden. 4 Jahre zuvor war die Familie von Spanien nach Uruguay ausgewandert. 40 Jahre später sind die Umstände, die zum Tod der Mutter führten, weiterhin ungeklärt, Familie und Freunde hüllen sich in Schweigen, Vater und Bruder sind mittlerweile verstorben, doch die offenen Fragen begleiten die Protagonistin weiterhin. Als sie erfährt, dass ihr Ehemann Álvaro sie betrügt, beschließt sie, für eine Woche nach Montevideo zurückzukehren.
Dort angekommen, begibt sich die Ich-Erzählerin auf eine Reise in die eigene Vergangenheit, sucht die Orte ihrer Kindheit und Jugend auf, trifft ihre alten Freundinnen Ana und Inés sowie Freundinnen ihrer Eltern. Erinnerungen werden wach: das im Gegensatz zum katholischen Spanien unter Franco so freizügige Uruguay der späten Sechzigerjahre, die Mode, das intellektuelle Leben der oberen Mittelschicht, die Partys der Eltern, die freie Liebe.
Doch zunehmend tritt auch zutage, was unter der glänzenden Oberfläche einer idealisierenden Erinnerung verdeckt geblieben war – die häufigen Streitereien der Eltern, die zunehmende Traurigkeit und Zurückgezogenheit der Mutter, nur halb verstandene Gesten und Gespräche, vergessene (oder verdrängte) Bilder, die Eltern, die so fröhlich und gleichzeitig so undurchschaubar waren. Nach und nach wird so das Bild der glücklichen Tage revidiert, hinterfragt, in Zweifel gezogen.
Von Isabel, einer Freundin der Mutter, erfährt die Erzählerin, dass ihr Vater Pablo von sämtlichen Frauen begehrt wurde und das freizügige Lebensgefühl offensichtlich genoss, während ihre Mutter in ihrer strengen Förmlichkeit eigentlich nie so recht in die damalige Gesellschaft gepasst habe. Isabel erinnert sich auch daran, wie sie selbst das erste Mal den Blick einer anderen Frau an ihren Mann auffing, und diese am liebsten umgebracht hätte. Doch es galt als unhöflich, eine Szene zu machen, so Isabel, also schaute man weg. Ulla, eine andere Freundin der Eltern, erzählt, dass damals jeder mit jedem angebandelt habe, aber dennoch alle miteinander befreundet gewesen seien.
Im 2. Teil besucht die Ich-Erzählerin Anas Bruder Yuyo, einen engen Freund ihres Bruders Tomás. Als Mitglied des linksradikalen Movimiento de Liberación Nacional saß er 13 Jahre im Gefängnis und lebt nun allein und völlig zurückgezogen auf dem Land. Nach und nach kehren auch bei Yuyo die Erinnerungen zurück und die Ich-Erzählerin (und mit ihr der Leser) erfährt die Liebesgeschichte zwischen ihrer Mutter und Yuyos Vater Teo, die dieser Yuyo im Gefängnis anvertraut hat. Ein Briefwechsel zwischen Lucía und Teo, den Yuyo aufbewahrt hat, bezeugt diese Liebesbeziehung. Gegen Ende des Romans erinnert sich Yuyo schließlich an den tragischen Ausgang der Geschichte, der zum Tod der Mutter führte.
Die letzte Nacht vor ihrem Rückflug verbringt die Protagonistin mit Yuyo, endlich sind beide frei von der Erinnerung an die Eltern, die sie ihr Leben lang begleitet hat, und können nun zueinander finden.
Mit ihrer Reise in die eigene Vergangenheit verhandelt María Tena ein universelles Thema – das Erinnern. Gleichzeit wirft der Roman Fragen nach der eigenen Identität und nach der Identität der Eltern auf, diesen so vertrauten und doch auch so unbekannten Menschen. Während sich die einzelnen Mosaiksteine um den Tod der Mutter langsam zu einem vollständigen Bild zusammenfügen, werden zugleich
immer wieder die Erinnerungen selbst hinterfragt und in Zweifel gezogen: Inwieweit sind die eigenen Erinnerungen zuverlässig, wo haben sich Erinnertes und Erzähltes vermischt, wo hat man sich die Dinge zurechtgebogen zu einer Version der Geschichte, die man selbst glauben wollte?
In kurzen, klaren Sätzen und einer schlichten, schnörkellosen Sprache evoziert die Autorin das bunte Uruguay der späten Sechzigerjahre und schafft es überzeugend, in die Gefühlswelt der Protagonistin, ihre Gedanken und Zweifel einzutauchen. Der Konflikt zwischen dem freizügigen Uruguay und dem streng katholischen Spanien der Franco-Zeit wird besonders in der Figur der Mutter verhandelt.
Bisweilen mag die Art, wie Tena Erinnerungen triggert vielleicht etwas konstruiert wirken, mit der Frage nach den mysteriösen Todesumständen der Mutter hält der Roman jedoch bis zum Schluss die Spannung. Insgesamt ist María Tena ein sensibler und einfühlsamer Roman gelungen, der mit seiner universellen Thematik sicherlich auch ein deutsches Lesepublikum ansprechen wird, weshalb ich eine Übersetzung auf jeden Fall befürworte.
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