Autor: Juan Eduardo Cirlot
Verlag: Ediciones Siruela, Madrid, 2016, 186 Seiten
Genre: Roman
Gutachterin: Sabine Giersberg
Zum hundertsten Geburtstag des Barceloneser Dichters, Kunstkritikers und Musikers Juan Eduardo Cirlot (1916 - 1973) konnte der Öffentlichkeit ein Kleinod zugänglich gemacht werden, das zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung im Jahr 1950 der Zensur zum Opfer gefallen war: Der Roman Nebiros. Der darin erzählte nächtliche Streifzug des Protagonisten durch die Amüsierviertel einer düsteren beklemmenden Hafenstadt hinterlässt einen bleibenden Leseeindruck.
Schon der Titel evoziert den mit Zerberus assoziierten Dämon Naberius oder auch Neberus, einen mächtigen Höllenfürsten, den der namenlose Protagonist zu seinem Idol erklärt hat. Für ihn ist es der Dämon der Unordnung und der unbekannten Sünde (auch ein Etablissement, das er aufsucht, trägt diesen Namen, auch wenn diese Information später in Zweifel gezogen wird). In der Enge seines bürgerlichen Lebens gefangen, wird das innere Forum für den Protagonisten zur eigentlichen Bühne. Er betrachtet seinen Verstand als "Versatzstück, bei dem sich ständig klar konturierte Fotografien übereinander schieben und ein inkohärentes Bild erzeugen". Zu Beginn sehen wir ihn über die Buchhaltung seines miserabel laufenden Geschäfts gebeugt, das er in alter Familientradition widerwillig fortführt. Seine Welt ist die des Kinos (er verehrt die bildschöne Schauspielerin Sybille Schmitz) und der Bücher, auch wenn er sich selbst als Mensch durchschnittlichen Verstandes beschreibt. Aus Überdruss flüchtet er sich in die Welt der Nacht in der pulsierenden Stadt, die mehr und zur Projektionsfläche seiner Gedanken wird. Ob am Meer, in der Kneipe oder im Bordell: unermüdlich dreht sich das Gedankenkarussell. Seine Haltung zur Welt und zu den Menschen ist von Indifferenz geprägt. Lediglich die käufliche Liebe (oder die reine Aussicht darauf) verschafft ihm ein wenig Linderung.
Durch den inneren Monolog ist der Leser im Kopf des Protagonisten gefangen, der den Einzelnen als eine der vielen Projektionen eines universellen Seins betrachtet. Flüchtige Eindrücke wie das im Auto vorbeifahrende Mädchen, musikalische und filmische Assoziationen oder die Geschichte von dem kleinen Jungen, der auf dem Berg seinen kleinen Bruder verbrannt hat, um sich an seinem Vater zu rächen, tauchen leitmotivisch immer wieder auf und werden mit existenziellen Themen (Begehren, Abweisung, Schmerz etc.) und anderen wirkmächtigen Bildern, vielfach aus der christlichen Ikonografie verknüpft und emotional aufgeladen. Es entsteht ein Porträt des inneren Schmerzes, gerade auch gegen Ende, als er in den Erinnerungen an seine Eltern wühlt und in einer Schachtel auf ein „müdes Herz“ stößt.
Der Protagonist betont seine Hinwendung zum Magischen, Mystischen. Im Liebesakt mit einer Prostituierten mit dem sprechenden Namen Lilith geht die fleischliche in eine mystische Dimension über, die Beschreibung der kruden Realität weicht lyrischer Verzückung, von dem Poeten Cirlot meisterlich gestaltet.
Am Ende sehen wir ihn, am Tisch in seiner Wohnung sitzend, aus dem Schlaf (Traum?) erwachen, sodass die Grenzen zwischen Traum und Realität endgültig verschwimmen – ein alter (und bewährter) Erzählertrick.
Themen wie Einsamkeit, Schuld, die Definition des Seins, Bedeutungslosigkeit des Einzelschicksals, Entfremdung etc. werden zu einem dichten Text verwoben, der durch die onirische Komponente trotzdem etwas Leichtes, Spielerisches behält. Die literarischen Anspielungen (u.a. auf Platons Politeia, Morus‘ Utopia, Butlers Erehwon oder ein Handbuch der Magie) öffnen den Text hin zu größeren philosophischen Zusammenhängen – nicht ohne ironisches Augenzwinkern. So sieht sich der Protagonist in einem seiner vielen Rollspiele als Propheten, der seine Weisheit der Welt verkünden muss, dann wieder überlegt er, ob er ein Straßenkind, das vor ihm steht, aufnehmen soll. Kaum ausgesprochen, werden die „Projekte“ auch schon wieder verworfen.
Das Gehirn des Protagonisten funktioniert wie eine Bildermaschine. Klassische Motive wie die Reise in exotische Welten, die unerreichbare Frau, die Erfahrung der Entgrenzung etc. werden durchgespielt, der Text verweist damit wie durch das Spiel mit Fiktionen ständig auf seine Literarizität.
Der Roman ist kunstvoll gestaltet, der Stil lakonisch und zugleich hochgradig poetisch. Literarisches, Mystisches und Philosophisches speisen die fiebrigen Spekulationen des Protagonisten, dessen Denken von radikalem Nihilismus geprägt ist.
Nebiros reiht sich in die Tradition der existenzialistischen Literatur ein und Cirlot erschafft eine originelle Bilderwelt, die dem Werk über die Zeit seiner Entstehung hinaus Bedeutung verleiht. Das informative Nachwort der Tochter des Autors bettet das Werk in den Kontext von Zensur und Franquismus ein. Auch vor diesem Hintergrund wäre eine Übertragung ins Deutsche —mit einem eigens für das deutsche Publikum verfassten Nachwort— ausgesprochen wünschenswert. Das Buch hat mich an Onettis Der Schacht erinnert (auch wenn dort ein Ich-Erzähler spricht), einen Schatz, der auch erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung (1939)gehoben werden konnte und das Publikum nach wie vor verzaubert.
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