Der neue bereits in zweiter Auflage bei dem renommierten Verlag Galaxia Gutenberg erschienene Roman der Autorin Pilar Adón (* 1971 in Madrid) wird von der Kritik (darunter bekannte Zeitungen wie El País, ABC, El Cultural) als eines der besten Bücher des Jahres gefeiert – und dem kann man sich durchaus anschließen. Die Autorin, die in Spanien bereits einige Werke veröffentlicht hat, wurde für den Roman, in dem ein Rezensent eine ästhetische Verbindung zu Virginia Woolf sieht, der Premio de la critica de narrativa castellana verliehen. Und in der Tat handelt es sich um eine Reise im Strom des Bewusstseins der Protagonistin Coro Mae, das heißt, der Schwerpunkt liegt nicht auf der Handlungsebene, sondern in einem sich zunehmend verdichtenden symbolischen Konstrukt.
Coro Mae, eine erfolgreiche Künstlerin, verlässt Hals über Kopf ihre Wohnung und fährt ohne bestimmtes Ziel los. Als sie feststellt, dass das Benzin zur Neige geht, nimmt sie auf der Suche nach einer Tankstelle die nächste Ausfahrt und verliert sich auf immer abgelegeneren Wegen, bis sie mitten in der Wildnis bei einem Tor zu einem Gehöft landet, wo eine Frau ihr Hilfe anbietet. Erschöpft nimmt sie das Angebot an, überzeugt, am nächsten Tag mit Benzin versorgt in ihr Leben zurückzukehren. Doch in Betania (Bethanien), wie der Ort heißt, mutet alles seltsam an. Ein paar wenige Frauen leben hier scheinbar nach althergebrachten Riten und machen keine Anstalten, Coro wieder gehen lassen zu wollen. Sie ist von der Außenwelt abgeschnitten, es gibt kein Telefon und ihr Handy hat sie in der Eile vergessen. Zunächst weigert sie sich am Alltag der Gemeinschaft teilzunehmen und das Einheitsgewand anzulegen. Sie beobachtet das Ganze argwöhnisch und will nur weg, doch sie hat keinen Plan wie. Da ist Catina, die sie eingelassen und im Haus offenbar das Sagen hat. Gloria wohnt im Keller und schließt sich nur hin und wieder den anderen an. Die kecken Zwillinge Rebeca und Magdalena bringen ein wenig Leben in die stille Bude. Die hochbetagte, im Rollstuhl sitzende Missa Tita ist so etwas wie die Weise und Priesterin der Gemeinschaft. Vor allem ist Coro über die Anwesenheit der altklugen kleinen Adel überrascht, die mit in der Gruppe lebt und auch dort, vornehmlich in der Natur, unterrichtet wird. Das Gebäude ist umgeben von Wald und in der Nähe befindet sich ein geheimnisvoller See. Des Weiteren leben Hunde an dem Ort, Coro hat man einen persönlichen zugeteilt, der auf den Namen Pan hört. Vor ihrer Flucht war Coro obsessiv mit dem Tod ihrer Schwester beschäftigt, die mit dem Auto in einem Kanal neben der Fahrbahn gelandet und untergegangen war.
Der Ort mit seiner geheimnisvollen Aura, vor allem die überbordende Natur, üben eine starke Faszination auf Coro aus und zugleich wird die Atmosphäre immer bedrückender, was an manche Texte Kafkas erinnert. Was führen die Frauen im Schilde? Auf einem Spaziergang trifft sie auf einen weiteren, in dem Fall männlichen, Bewohner namens Tobías Mos, der behauptet, von einer Reise zurückgekehrt und der eigentliche Besitzer des Grundstücks zu sein. Coro will ihn um Hilfe bitten, doch irgendwie schafft sie es nicht, mit ihm zu sprechen. Dem Leser / der Leserin kommen Zweifel: Ist das alles ein Traum oder einer wirren Phantasie entsprungen? Befindet die Protagonistin sich in Wahrheit in einer psychiatrischen Klinik? Bethanien ist ja bekanntlich der Ort der Heilung des Lazarus. Und auch die anderen biblischen Namen scheinen auf eine symbolische Dimension hinzudeuten. An einer Stelle gibt es auch einen expliziten Hinweis auf die antike Tragödie.
Die Frauen bewaffnen sich zur Gegenwehr, und als Tobías es wagt, sich dem Haus zu nähern, greifen sie ihn an und er geht verwundet zu Boden. Darauf folgt eine der schönsten und poetischsten Szenen des Romans. In Begleitung der anderen Frauen begibt sich Coro in den unterirdischen Teil des Hauses, in dem sich ein prächtiges türkisfarbenes Gewässer befindet, das angeblich unterirdisch mit dem See verbunden ist. Coro ist verzückt von den Farb- und Lichtspielen, die sie mit der Sensibilität und Kenntnis der Malerin auf besondere Weise wahrnimmt. Einem Impuls folgend – ist es der Wunsch nach Frieden? Flucht? – taucht sie ein in das blaue Nass. Irgendwann verspürt sie eine Berührung und sie wähnt sich mit der toten Schwester vereint, die sie in ihren letzten Werken obsessiv gemalt hat. Als sie wieder auftaucht, ist die Aufregung groß. Rebeca, die ihr nachgetaucht war, ist verschwunden. Und sie wird auch die nächsten Tage nicht auftauchen. Während Coro sich wieder im Gleichgewicht fühlt und sich mehr und mehr von ihrem alten Leben lossagt, wird Magdalena von ihrer Trauer um die Zwillingsschwester zerfressen. In ihrer Verzweiflung beginnt sie überall auf dem Grundstück Löcher zu graben, um Rebeca zu finden - vergebens.
Coro beginnt zu malen und findet darin ein geistiges Refugium. Die an dieser Stelle herbeizitierten ikonischen Gestalten erweitern den ästhetischen Raum um weitere Komponenten: Séraphine Louis mit ihren von floralen Motiven geprägten psychedelischen Bilderwelten mit mystischen und religiösen Anklängen, die Bildhauerin und Installationskünstlerin Cornelia Parker, die vor allem durch „Cold Dark Matter: An Exploded View“ bekannt wurde, einer Installation aus den Teilen eines gesprengten Gartenhauses. Oder Zurbaráns Gemälde der in Spanien sehr populären Heiligen Casilda von Toledo mit Schürze und Rosen (der Legende nach wurde sie von den Wachen ihres Vaters, eines muslimischen Sultans, angehalten, als sie Christen heimlich Brote bringen wollte, und diese sollen sich dann in Rosen verwandelt haben).
Irgendwann bricht Coro auf zum See, um sich in den Wellen erneut mit ihrer Schwester zu vereinen. Natürlich ist auch Coro, wie die anderen, ein sprechender Name, der „Chor“ und in der Sprache der Arawak auch „Wind“ bedeutet. Sie wird eins mit ihrer Schwester, ist Coro Mae und Coro Mag. Ein großer Vogel schwebt zum Schluss über ihr, der seine Krallen und seine Flügel nach ihr ausstreckt, und da sie selbst nicht fliegen kann, beschließt sie, sich stattdessen auf den Grund sinken zu lassen. Das Ende knüpft somit an eine Zeile aus Emily Dickinsons Gedicht „Tis not that Dying hurts us so“ an, die dem Buch als Motto vorangestellt ist: „We are the birds that stay“.
Die Dichterin ist berühmt für ihren unkonventionellen Umgang mit Metrum und Rhythmus und ihre luziden Gedanken. Diese Originalität kann man auch dem vorliegenden Roman von Pilar Adón zusprechen, die im Übrigen auch Literatur aus dem Englischen übersetzt. Universelle Themen wie Flucht, Freiheit, Trauma, Trauer, Erlösung werden mit einer sich zunehmend verdichtenden Symbolsprache in ein Kunstwerk verwandelt, an dessen Ende die Katharsis steht. Die kurzen Sätze fließen elegant dahin, Anspielungen auf Kunst und Literatur laden den Text mit zusätzlichen Bedeutungsebenen auf, ohne ihn kopflastig zu machen. Ein gelungener Wurf!
Fazit: Ein komplexes und wohltuend anderes Buch jenseits der in Spanien immer noch beliebten realistischen Erzähltradition mit sich wiederholenden Themen, das hoffentlich auch bald für die deutsche Leserschaft verfügbar ist. Auch wenn der Text an sich natürlich eine Herausforderung ist, sollten sich bei der Übersetzung keine größeren Schwierigkeiten ergeben.
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