Paloma González Rubio (Madrid, 1962) hat bereits mehrere Romane für Erwachsene und Jugendliche veröffentlicht. 2007 erhielt sie den Premio de relato José Saramago.
Ihr Jugendbuch Ventanas stand auf der Shortlist für den Premio Anaya de Literatura Juvenil und wurde mit dem Preis El Templo de las Mil Puertas ausgezeichnet. Die Tageszeitung El País zählt den Roman zu den besten Büchern des Jahres 2021.
In der namenlosen Hauptstadt eines unbekannten Landes lebt der zwölfjährige Bruno mit seinen Eltern, seiner älteren Schwester Silvina, Onkel und Tante und deren drei kleinen Kindern in einer Wohnung. Ein blutiger Bürgerkrieg in diesem Land endete erst wenige Jahre zuvor mit dem Sieg einer Partei. Seither leben die Menschen in Angst und Armut, die Infrastruktur ist weitgehend zerstört, es herrscht eine Diktatur. So ist es zum Beispiel verboten, Gardinen an den Fenstern anzubringen (daher der Titel des Buches), um zu zeigen, dass man nichts zu verbergen hat.
Eines Tages dringen Soldaten in die Wohnung ein und verhaften vor den Augen der Kinder die beiden Mütter. Bruno, Silvina und ihre kleinen Cousins (darunter ein Baby) bleiben allein zurück. Als Bruno zum Arbeitsplatz seines Vaters und Onkels läuft, erfährt er, dass auch diese abgeholt wurden; die Kinder sind ganz auf sich gestellt.
Was das bedeutet, erfahren sie in den nächsten Tagen auf grausame Weise: Niemand ist bereit, ihnen zu helfen, obwohl die Kinder weder Geld noch Essen haben und mit der Pflege des kranken Babys völlig überfordert sind. Sämtliche Hausbewohner, selbst Freunde der Familie, tun so, als existierten die Kinder nicht. Schlimmer noch: Nachts dringen die Nachbarn in die Wohnung ein und stehlen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Beim Versuch, einkaufen zu gehen, werden die Kinder betrogen. Nur ein Mann zeigt ein wenig Mitleid. Er rät ihnen, zur Polizeistation zu gehen und dort nach den Eltern zu fragen, und macht Andeutungen über eine Untergrundorganisation, die »Fällen wie sie« rekrutiert, sich aber erst an sie wenden wird, wenn sie alles verloren haben. Mit diesen kryptischen Worten können die Kinder wenig anfangen, aber am nächsten Tag machen sie sich auf den Weg zur Polizei. Dort begegnet man ihnen nicht, wie erhofft, mit Mitleid. Stattdessen wird Silvina in Gewahrsam genommen (unausgesprochen wird deutlich, dass die Polizisten sie vergewaltigen werden), die anderen werden weggeschickt. Eine junge Frau, die ebenfalls verhaftet wurde, nimmt das sterbende Baby an sich und verspricht, dafür zu sorgen, dass es ins Gefängniskrankenhaus kommt. Aus Ratlosigkeit und Verzweiflung bleiben Bruno und seine beiden kleinen Cousins in der Nähe der Polizeistation. In der Nacht glauben sie, durch Fensterluken, die in unterirdische Verliese führen, die Stimmen ihrer Mütter zu hören, doch dann hetzt die Polizei Hunde auf sie. Bruno gelingt als einzigem die Flucht.
Eine Straßenbahn, in die er einsteigt, bringt ihn schließlich nicht nach Hause, sondern in ein unterirdisches Versteck der Widerstandsbewegung, die aus Kindern wie ihm besteht. Dort lernt Bruno schießen und widmet seinen Leben fortan dem Kampf gegen die Diktatur.
Zuletzt erfährt man, dass Brunos Eltern, Onkel und Tante irgendwann freigelassen werden und wieder mit ihren Kindern zusammenkommen. Alle sind durch Misshandlung fürs Leben gezeichnet und schwer traumatisiert. Aber das wird Bruno im Untergrund nie erfahren, genau wie seine Familie nie erfahren wird, was aus ihm geworden ist.
Selten habe ich so ein düsteres, hoffnungsloses und erschütterndes Jugendbuch gelesen wie Ventanas. Von der ersten Seite an wird man förmlich in die Geschichte hineingesaugt, verschlingt sie in der Hoffnung auf ein winziges bisschen Menschlichkeit, auf einen einzigen Hoffnungsschimmer – aber nach einem schlimmen Anfang wird es schlimmer und schlimmer. Am Ende ist man schon glücklich darüber, dass alle Figuren überlebt haben, wenn auch ihr Leben zerstört und ein Ende der Diktatur nicht in Sicht ist. Die Geschichte basiert angeblich auf einer wahren Begebenheit, Raum und Zeit sind aber absichtlich so vage gehalten, dass man beim Lesen sämtliche Diktaturen dieser Welt assoziieren kann.
Die Ereignisse sind konsequent aus Sicht der Kinder erzählt. Daher erscheint es auch nicht merkwürdig, dass Bruno dem Geist seiner Freundin Alicia begegnet, die während des Krieges bei einem Bombenangriff ums Leben kam – worüber aber niemand mit den Kindern gesprochen hat. Überhaupt ist das Schweigen der Erwachsenen ohrenbetäubend. Auch die Eltern bleiben schemenhaft, und es wird nicht erklärt, warum sie verhaftet wurden, höchstens angedeutet, dass einige Familienmitglieder sich kritisch über das System geäußert haben könnten. Das macht die Geschichte umso beklemmender, da das Verhalten der Erwachsenen den jungen Protagonisten einerseits übermächtig, andererseits aber völlig unerklärlich erscheint.
Eine originelle Idee ist, dass alle Kapitel die Namen bestimmter Fenstertypen tragen, wie Oberlicht oder Panoramafenster, die inhaltliche Aspekte des jeweiligen Kapitels aufgreifen. Abgesehen davon ist der Roman sprachlich eher schlicht, und auch die Geschichte verläuft sehr geradlinig, was aber keineswegs ein Nachteil ist, sondern ihr eine ungeheure Wucht verleiht.
Ventanas ist eine für junge wie für erwachsene Leser nur schwer erträgliche Lektüre, aber, wie ein Kritiker schrieb, »ein sehr wichtiges Buch«. Eine unbedingte Empfehlung.
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